Das Echo der Texte

Jacques Derridas Lektüreverfahren

Von Sven AchelpohlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sven Achelpohl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Folgt man Geoffrey Bennington, dann sind Jacques Derridas Arbeiten "weniger ein eigenes System von Thesen" als "fast ausnahmslos Lektüren philosophischer und literarischer Texte der Tradition." In einer doppelten Geste, die Demontage und Rekonstruktion miteinander verbindet, entsteht so ein Lektüreverfahren, das die Tradition gerade in der Desedimentierung bewahrt. Derrida selbst formulierte dieses Sinnfestschreibungen suspendierende "Verfahren" der Dekonstruktion in "Mémoires" als "keine nachträgliche von außen her eines schönen Tages sich ereignende Operation, sie ist immer schon am Werk im Werk. (...( Wenn die auseinandersetzende Kraft der Dekonstruktion sich immer schon in der Architektur des Werkes verortet findet, so käme es angesichts dieses immer schon insgesamt gesehen nur noch darauf an, das Gedächtnis ins Werk zu setzen, um dekonstruieren zu können." Diese Lektürepraxis ist Gegenstand von Anja Köppers Untersuchung "Dekonstruktive Textbewegungen". Bei einem Philosophen, der sich stets im Horizont verantwortender Lektüre vorgängiger Texte weiß, bedeutet dies, dass die Autorin Köpper eine fast 40-jährige Publikations- und mithin Lektüretätigkeit zu berücksichtigen hat. Daraus ergibt sich für die Konzeption der Untersuchung notwendigerweise ein Hang zur Gesamtdarstellung, deren Aufbau und punktuelle Schwerpunktsetzung im Folgenden skizziert werden soll.

Im einleitenden Kapitel schildert Köpper in einem straff geführten Parcours durch Derridas Werk Voraussetzungen und Ziele seiner Metaphysikkritik. Köpper umreißt damit den für die 60er und 70er Jahre aktuellen Stand des Derridaschen Denkens, welches zunächst ganz im Zeichen der Linguistik, Semiotik und der Abkehr von der Phänomenologie stand. Derrida selbst hat zwar retrospektiv in "Ponctuations - le temps de la thèse" von einem "offenen strategischen Dispositiv mit einem nicht formalisierbaren Ensemble von Regeln des Lesens, Interpretierens und Schreibens" gesprochen. Unbestritten ist dennoch, dass die 60er Jahre für Derrida eine streckenweise programmatische Phase waren, weshalb Köppers Rekonstruktionen nicht der Vorwurf trifft, Inkommensurables und Disparates in das Korsett thematischer Kohärenz gezwungen zu haben. Am Leitfaden so zentraler Begriffe wie "écriture", "trace" und "supplement", deren akkreditierten Sinn Derrida hinterrücks verschiebt, entsteht in Umrissen das Theoriegebäude (oder doch eher die Baustelle?) der Dekonstruktion. Köpper strengt jedoch selten eine Synopsis von Primärtext und Derridas Lektüre an, obwohl gerade dies seine Lektürepraxis samt Idiomatik und Rhetorik sichtbar werden ließe. Vielmehr ist es Köppers Ziel, die Hauptlinien herauszuarbeiten und lediglich punktuell Brennpunkte Derridaschen Denkens zu benennen. Verwunderlich ist es da schon, dass das letzte Unterkapitel die Frage aufwirft, ob Dekonstruktion eine Methode sei, da sie damit zu einem resultativen Verfahren stillgestellt wird.

Im folgenden Kapitel "Nullpunkte: Bewegungen durch den (literarischen) Text" wechselt Köpper zu ihrem Schwerpunktthema: die Dekonstruktion im Kontext der Literatur (-Wissenschaften). Mit dem "Nullpunkt", eine auf Michael Wetzels Übersetzung von "Point de folie - maintenant l'architecture" zurückzuführende Metapher, die sich ein wenig schief in Derridas Philosophie schiebt, bezeichnet Köpper im Folgenden "diejenigen Themen, [welche] oft nur durch ein Wort repräsentiert, die Ambivalenz der Sprache in sich tragen." Diese Nullpunkte sind nach Köpper Anlaufstellen der Dekonstruktion und unterliegen dennoch zugleich zentrifugalen Kräften. Es handelt sich also nicht um Quellpunkte, die dem Metaphysikverdacht ausgesetzt werden könnten, sondern um disseminierende Nullpunkte. Warum Köpper trotzdem an diesem Begriff festhält, ist wenig verständlich, da er weder auf Derrida zurückzuführen ist, noch die Qualität besitzt wie etwa "trace" oder die Asche-Metapher, wie sie in "Feu la cendre", "Circonfession" und "Donner le temps" Anwendung findet und treffender die Verschränkung von Präsenz und Absenz zum Ausdruck bringt als die Trope des Nullpunktes.

Die im Nullpunkte-Kapitel ausgebreiteten informativen Erläuterungen der Autorin zu so zentralen Motiven Derridas wie Gabe, Spiel, Gesetz und Gerechtigkeit sollen die angedeutete Auseinandersetzung mit der Literatur vorantreiben, die Fragen nach dem Status und den zweifellos unterschiedlichen Modi der Lektüre von Literatur respektive Philosophie in Derridas Philosophie bleiben aber virulent. Wohin führt eine Dekonstruktion der "Bedingung der Möglichkeit" von Unterscheidungen, wie die zwischen Philosophie und Literatur, die nicht länger als Apriori akzeptiert wird und in den Prozess des "Abbaus" (deconstruction) selbst einbezogen wird? Was bedeutet diese unmögliche Grenzziehung, die einschließender Art ist, für die Konstitutionsbeziehung von Literatur und Philosophie?

Im vorletzten Kapitel macht die Autorin anhand der einschlägigen Rezeption Kafkas und insbesondere Celans durch Derrida deutlich, dass jeglicher Akt der Lektüre von einem ethischen Impetus begleitet wird. Die Alterität des Kunstwerkes, welches in seiner Einzigartigkeit dennoch ein dialogisches Verhältnis und Gegenzeichnung einfordert, führt nach Köpper zu einer "Trauerarbeit um Eigennamen und einmalige Daten, die Zeit haben, das Ich zu überleben, dem sie angehörten und die schon zu dessen Lebzeit in jeder Gegenwart die Möglichkeit des Todes sagten." Pauschalvorwürfe, die an Derridas Adresse in der Vergangenheit gemacht wurden, wie etwa der des moralischen Nihilismus, straft insbesondere die hier deutlich werdende Ethik des Lesens Lügen. Und gerade im Verzicht Derridas auf identitätslogische Existenzialurteile bildet sich eine Öffnung auf den Anderen hin.

Als Ergebnis bleibt festzuhalten, dass sich Köppers "Dekonstruktive Textbewegungen" als Querschnittsdarstellung neben die bekannten Einführungen von Kofman, Kimmerle, Bennington und Dreisholtkamp einreiht. Leider fehlen die weiterführenden Ausleuchtungen der philosophischen und literarischen Hintergründe, vor und mit denen Derrida seine Lektüren inszeniert. Über Verzeitlichung etwa lässt sich ohne Bezug auf Husserls Pro- und Retentionsmodell wenig sagen, an seine Unterscheidung zwischen Ausdrucks- und Anzeichen wäre ebenso zu denken. Zweifelhaft ist auch, ob die "Spur", wie Köpper nahe legt, allein von Freud her zu verstehen ist, und nicht etwa auch die "surimpression" mit Levinas, Jabès und Husserl Berücksichtigung finden müsste. Überhaupt überspringt die Autorin fast gänzlich Derridas frühe Beschäftigung mit Husserls "Vom Ursprung der Geometrie" sowie seine minutiöse ré-écriture der Zeichentheorie der "1. Logischen Untersuchung" in "La voix et le phénomène". In dieser Husserl-Studie beispielsweise heißt es bereits, dass das "Ursprünglich-Sein von der Spur aus [zu] denken [ist] und nicht umgekehrt."

Aufschlussreich für das Thema der Derridaschen Textarbeit im Spannungsfeld von Philosophie und Literatur wäre zum Beispiel auch die Art und Weise, wie Genet und Hegel (in "Glas") oder Husserl und Joyce (in der Einleitung zu "Vom Ursprung der Geometrie") in Kontakt treten.

Anzumerken bleibt darüber hinaus, dass das romantische Bild des Igels in "Che cos'è la poesia?" durch Derrida in dem Interview "Istrice 2 Ick bünn hier" eine hilfreiche Ergänzung erfahren hat, die Köpper leider nicht berücksichtigt hat. Trotz dieser Mängel, die sich zwangsläufig durch die fehlende thematische Schwerpunktsetzung ergeben haben, kann man diese Arbeit insbesondere denen ans Herz legen, die sich immer noch wie Habermas von Derrida in "den Strudel eines ungerichteten Sprachstroms hineingerissen" fühlen.

Titelbild

Anja Köpper: Dekonstruktive Textbewegung. Zu Lektüreverfahren Derridas.
Passagen Verlag, Wien 1999.
128 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3851653475

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