Zur Wahrnehmung verdammt

Antonio Damasio ergründet die drei Stufen des menschlichen Selbst

Von Carsten KönnekerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Carsten Könneker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Rätsel ist alt, und die Liste derer, die sich an einer Lösung versucht haben, liest sich fast wie ein Who is who der Philosophie- und Geistesgeschichte. Antonio Damasios Verdienst ist es, erst gar nicht vorzugeben, alle Fragen beantworten zu können, die wir in Bezug auf das "Bewusstsein" haben - denn um dieses dreht sich schließlich alles in seinem neuen Buch. Dabei dringt der renommierte amerikanische Neurologe mit seinem Ansatz, das Problem über den Umweg des "Selbst" anzugehen, durchaus weit vor. Seit 1976 untersucht er zusammen mit seiner Frau Hanna das Beziehungsgeflecht von Wahrnehmungsfähigkeit, Selbstgefühl, Emotionalität, Geist usw. anhand von Menschen, die in Folge von Erkrankungen oder Unfällen entsprechende Auffälligkeiten an den Tag legen. Ausfall-Erscheinungen, bei denen Patienten bestimmte Hirn-Leistungen nicht mehr erbringen können, flankieren gewissermaßen die Freilegung des Mosaiks "Bewusstsein".

Um seine innovativen Ideen einer breiten Leserschaft verständlich zu machen, schafft Damasio eine eigene Terminologie. Die Frage nach dem menschlichen Bewusstsein verwirft er dabei und bietet stattdessen ein dreistufiges Modell an: Auf der untersten Ebene nimmt der Mensch - unbewusst - seinen eigenen Körper wahr; Damasio spricht vom "Proto-Selbst" des Organismus. Die fortwährende, pulsartige Wahrnehmung der verschiedensten Objekte - Gegenstände, Melodien, Erinnerungen usw. - generiert auf einer zweiten Stufe das "Kernbewusstsein"; der Eindruck einer anhaltenden Körperempfindung, das "Kernselbst", entsteht. Dies bedeutet nichts weniger, als dass das Grundgefühl für die eigene Identität, die Gewissheit, dass der Außenwelt-Film im Kopf nur meiner Wahrnehmung - und keiner anderen - entspringt, zuletzt körperlich bedingt ist: "Ich fühle, also bin ich" lautet folgerichtig auch der Titel von Damasios Buch - natürlich gemeint als erneuter Seitenhieb auf den alten cartesischen Dualismus. Zu höheren geistigen Qualitäten - Sprache, Langzeitgedächtnis, Denken - ist das Kernselbst, das auch höher entwickelten Tieren eigentümlich ist, allerdings nicht fähig. Dafür zuständig ist erst das "autobiografische Selbst". Wird dessen "erweitertes Bewusstsein" unterbrochen - etwa bei Krankheiten wie der transienten globalen Amnesie -, so ist der Betroffene seiner persönlichen historischen Vergangenheit und Zukunft beraubt. Sein Kernbewusstsein jedoch arbeitet weiter; Hier und Jetzt sind für den Patienten immer noch greifbar, was typische Fragen wie "Wo bin ich?", "Was tu ich hier?" oder "Wie bin ich hierher gekommen?" heraufbeschwört.

Damasio, der mit "Descartes' Irrtum" bereits einen viel beachteten Sachbuch-Bestseller vorlegen konnte, kommt am Ende seines durch Fallbeispiele aus dem Klinik-Alltag angereicherten neuen Werkes zu dem Schluss, dass wir uns im gesunden Zustand der Außen- wie der Selbstwahrnehmung überhaupt nicht entziehen können, denn beides ist vom Organismus her bedingt. Der alte Dualismus von Körper und Geist ist hinfällig. Wir sind zum Wahrnehmen verdammt - wodurch auch Angst, Gefahr und Schmerz zu fixen Bestandteilen unserer Existenz werden.

Titelbild

Antonio Damasio: Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewußtseins.
Übersetzt aus dem Englischen von Heiner Kober.
List Verlag, München 2000.
455 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3471773495

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