Vergessen wir nicht - die Philosophiegeschichte

Philosophie der Psychoanalyse statt Psychoanalyse der Philosophie

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Spaß" wünschte Derrida, populäre Galionsfigur des Dekonstruktivismus, den HörerInnen seiner Vorträge. "Viel Spaß" sogar, falls sie nämlich von ihm "eine Positionierung erwarten sollten, um daran ihr Urteil festzumachen". Der Spaß jedoch hält sich in Grenzen, während ein Erkenntnisgewinn sich durchaus einstellt. Über das prekäre Verhältnis von psychoanalytischer Kritik der Vernunft und vernünftiger Grundlegung der Psychoanalyse aus dekonstruktivistischer Sicht etwa. Spaß hatte offenbar Derrida selbst beim Vortrag seiner Texte: Daran nämlich, Positionierungen zu vermeiden oder zumindest zu verdunkeln, und daran, den LeserInnen mit seinen wohlbekannten Obskurantismen die Urteilsbildung zu erschweren. Spaß auch an Paradoxa und contradictiones in adjectis, wie etwa "gemein und nicht gemein", "strategielose Strategie" oder "statusloser Status". Das sind die Späße, die Derrida goutiert. Doch sollte man sich davor hüten, sie samt und sonders schlichtweg für Kalauer zu halten. Spricht er etwa von der "Wahrheit ohne Wahrheit der Dekonstruktion", so macht das durchaus Sinn. Verweist dieses "scheinbare Paradox" doch auf das unendliche Verfahren der wahrheitsforschenden Analyse. Spaß hat Derrida auch an durch den Text mäandernden Satz- und Gedankenschleifen: Einem Möbiusband gleicht jener scheinbar endlos gewundene Satz, der, ohne je irgendwo anzukommen, in zahllos sich variierenden Halbsätzen versichert, daß man notwendig scheitert, wenn und sobald man - ankommt. Derrida versteht es, dieses Scheitern zu verhindern. Zuweilen frönt er gerne einer geradezu belustigenden Megalomanie des Begriffes: "Hyperanalytismus". Doch manifestiert sich auch in dieser Manie nicht bloßer Nonsens. Wenn er von dem "Endpunkt der Analyse" als "telos", dem "Uranfänglichen des Uranfangs" spricht, so macht das natürlich Sinn. Man fragt sich allerdings, ob es die schlichte und vielleicht etwas altmodische "Zweckursache" nicht ebenfalls getan hätte.

Derrida, der in seiner ersten Schrift zur Psychoanalyse, "Freud und der Schauplatz der Schrift" (1966), betonte, daß es sich bei der "Dekonstruktion des Logozentrismus" nicht um eine Psychoanalyse der Philosophie handelt, stellt einmal mehr unter Beweis, daß eines seiner Anliegen vielmehr umgekehrt die Erarbeitung einer Philosophie der Psychoanalyse ist. Vier Vorträge werden präsentiert, die Derrida zu Beginn der 90er Jahre hielt. Im ersten ruft der Philosoph der Psychoanalyse dazu auf, sie nicht zu vergessen. Aber auch die Geschichte der Philosophie sollte man nicht dem Vergessen anheimfallen lassen. Dies aber scheint der Fall zu sein, wenn Derrida zunächst zu einem polemischen, scheinbar von keiner philosophiehistorischen Kenntnis getrübten Rundumschlag gegen die Gilde der Philosophen ausholt und den Eindruck erweckt, als hätten erst Freud und die Psychoanalyse ihre Aufmerksamkeit auf das Unbewußte gelenkt. Spätestens aber seit Platons Anamnesislehre spielt das Unbewußte in philosophischen Diskursen über die Jahrtausende hinweg eine Rolle. Im 19. Jahrhundert machte es philosophische Karriere. Schopenhauer stellte 1819 den unbewußten Willen ins Zentrum seiner Philosophie. 1846 führte Carl Gustav Carus den substantivischen Terminus "das Unbewußte" als "Schlüssel der Erkenntnis von dem bewußten Seelenleben" in die Philosophie ein. Und 1869 erschien Eduard von Hartmanns "Philosophie des Unbewußten". Aber natürlich hat Derrida all das nicht wirklich vergessen. Seine Polemik richtet sich letztlich nur gegen das derzeitige "philosophische Meinungsklima", dem er vorwirft, "das Ereignis Psychoanalyse" nach vorübergehender Beunruhigung quasi verdrängt zu haben, als "der philosophische Diskurs" in den 60ern aufgrund seiner Rezeption der Psychoanalyse "seinen Grund, seine Axiome, seine Normen und seine Sprache" zu verlieren drohte. Nun hat es allerdings den einen philosophischen Diskurs nie gegeben, also auch keine gemeinsamen Axiome und Normen. Und schon gar nicht eine gemeinsame Sprache. Gerade was sie betrifft, so schafft sich jeder Philosoph seine eigene. Derrida fordert gegenüber dem "philosophischen Meinungsklima", demzufolge die Psychoanalyse "nicht länger in Mode" sei, die philosophische Reflexion psychoanalytischer Erkenntnisse ein, wenn Philosophie sich nicht den Vorwurf "beschämender flickschusterhafter Restauration" der "Autorität des Bewußtseins" gefallen lassen wolle. Andererseits aber habe die Psychoanalyse selbst eine "philosophische Schuld" abzutragen und müsse sich Rechenschaft darüber ablegen, was "der Grund/die Vernunft der Psychoanalyse" ist und vor welcher Vernunft sie sich und ihre Vernunftkritik zu verantworten hat. Eine zentrale Frage im prekären Verhältnis von Philosophie und Psychoanalyse.

Im zweiten Vortrag wendet sich Derrida seiner "Liebe zu Lacan" zu, wie er den Titel provozierend formuliert. Der Vortrag wahrt bei allen fundamentalen Differenzen den Ton einer Laudatio. Doch nichts, so bringt Derrida seine Kritik an Lacan lapidar auf den Punkt, nichts bedurfte mehr der Dekonstruktion als der Diskurs Lacans.

Sodann geht es Derrida darum, Freud gegenüber Foucault in Schutz zu nehmen, dessen Lobreden auf den Begründer der Psychoanalyse niedergingen "wie Fallbeile". Derridas argumentativer Weg führt über den Bruch der Psychoanalyse mit der Psychologie, den sie vollzieht "indem sie mit der Unvernunft spricht, welche im Wahnsinn spricht", zu ihrer Grenze, der Schizophrenie und der Psychose. Ihnen kann sich die Psychoanalyse nur nähern, der Zugang zu ihnen jedoch ist ihr "untersagt und unmöglich. Diese Grenze definiert die Psychoanalyse".

Mit seinem letzten Vortrag dringt Derrida zum zentralen Problem des Widerstands vor. Die besondere Problematik wird schnell deutlich: daß die "Psychoanalyse selbst [niemals] einen vereinheitlichten Begriff des Widerstandes, seiner Logik und seiner Topik" gehabt habe. Diese Behauptung Derridas hat weitreichende Konsequenzen. Denn wenn der Begriff des Widerstandes gegen die Analyse "aus Gründen, die nicht akzidentieller oder kontingenter Natur sind", sich nicht vereinheitlichen läßt, dann droht dem "Begriff der Analyse, der psychoanalytischen Analyse, gar noch dem Begriff der Psychoanalyse" das gleiche Schicksal. Es handelt sich um ein gewaltiges understatement, wenn Derrida behauptet, "mit der Reaktivierung dieser Frage des Widerstandes gegen die Analyse [...] gegen den Strom zu schwimmen und vielleicht auch ein wenig widerstehen" zu wollen. Sind es doch gleich zwei Zentren, in welche er hier vorstößt. Zum einen in das der Psychoanalyse und zum anderen in das seines eigenen, dekonstruktivistischen Verhältnisses zu ihr (und zur Philosophie). Und zumindest hier läßt sich dann doch so etwas wie eine Positionierung ausmachen.

Titelbild

Jacques Derrida: Vergessen wir nicht - die Psychoanalyse! Herausgegeben, übersetzt und mir einem Nachwort von Hans-Dieter Gondek.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
234 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 351811980X

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