Der Däne ist kein Pole, sondern ein Germane

Michael Burleighs Gesamtdarstellung "Die Zeit des Nationalsozialismus"

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Burleighs Monographie "Die Zeit des Nationalsozialismus" stellt sich als die erste "große historiographische Synthese" zum Thema vor. Jedoch hat sich - auch wenn der britische Historiker dies anders sieht - seit der Publikation von Karl Dietrich Brachers Standardwerk "Die deutsche Diktatur" (1969) in der Forschung diesbezüglich einiges getan; zuletzt erschienen die Gesamtdarstellungen von Bernd-Jürgen Wendt (1995) und Ludolf Herbst (1996). Hat Herbst die Dynamik des nationalsozialistischen Herrschaftssystems mit kybernetischen Modellen beschrieben, verbindet Burleigh den Totalitarismus-Ansatz (Carl Joachim Friedrich, Zbigniew Brzezinski) mit Theorien über politische Religionen (Eric Voegelin, Raymond Aron), um die Faszination zu erklären, die der Nationalsozialismus auf große Teile der deutschen Gesellschaft ausübte.

Ausführlicher als viele andere Historiker befasst sich Burleigh mit der Vorgeschichte des "Dritten Reiches". Monokausale Erklärungen für Hitlers Aufstieg (die Machtfülle des Reichspräsidenten oder die Wirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre) lehnt er ab. Abgesehen von kleinen Fehlern wie der Bezeichnung des "Simplicissimus" als Satirezeitschrift der SPD, bietet Burleigh einen zuverlässigen Überblick über den Ersten Weltkrieg und die Weimarer Republik.

Eine der Stärken des Buches ist die differenzierte Behandlung moralisch heikler Fragen wie z. B. der Eugenik und der Euthanasie. Burleigh, der sich schon früher eingehend mit diesem Thema beschäftigt hat (1994 erschien "Death and deliverance. Euthanasia in Germany 1900 - 1945"), verweist zwar darauf, dass auch in anderen Ländern und nicht nur bei der extremen Rechten viele für eugenische Maßnahmen eintraten, betont aber andererseits: "Der internationale Charakter der Eugenik, die amerikanische, britische oder skandinavische Begeisterung für die Sterilisation, sind keine zureichende Erklärung für das Ausmaß und die systematische Bösartigkeit der erbhygienischen Politik des Nationalsozialismus". Bei der Darstellung des nationalsozialistischen Wohlfahrtsstaates wird deutlich, dass die Ablösung der in der Weimarer Republik vorherrschenden Bürokratie durch einen "gnadenlosen Aktivismus" zwar eindrucksvolle Ergebnisse zeitigte, aber andererseits nicht nur "fremdrassige", sondern auch die nicht arbeits- oder fortpflanzungsfähigen "Volksgenossen" aus dem Kreis der Leistungsempfänger ausgeschlossen waren - ein Faktum, das bei der Frage nach der "Modernität" des Nationalsozialismus unbedingt zu berücksichtigen ist. Schließlich betont Burleigh, dass die "Hauptstoßrichtung" der NS-Propaganda zweifellos antimarxistisch war. Dies bedeute jedoch nicht, dass man den Nationalsozialismus "als eine ausschließlich antimarxistische Bewegung karikieren" könne, die an der Erhaltung des Bürgertums interessiert gewesen sei: "Die Nationalsozialisten waren nicht darauf aus, den Marxismus im Namen des 'Bürgertums' zu vernichten, denn in ihrem vitalistischen Verständnis der Dinge bestand das deutsche 'Bürgertum' aus memmenhaften, schwächlichen, heuchlerischen Materialisten" - eine klare Absage an den Versuch Ernst Noltes, Hitler als "europäischen Bürger" zu porträtieren.

Breiten Raum nimmt die Darstellung der NS-Besatzungspolitik ein, wobei deutlich wird, wie sehr sich die Behandlung der östlichen und der nördlichen Völker voneinander unterschied. Treffend wird dies durch den Ausspruch eines Generals der Luftwaffe im besetzten Dänemark illustriert: "Der Däne ist kein Pole, sondern ein Germane".

Burleigh betont, dass Diskussionen wie die über das Verhältnis zwischen ideologischen Motiven Hitlers und strukturellen Faktoren für die Erklärung der nationalsozialistischen Politik in seinem Buch kaum Erwähnung fänden. Bei der Darstellung des Holocausts kommt er indes nicht umhin, in dieser - Anfang der 1980er Jahre heftig ausgetragenen - Forschungskontroverse Position zu beziehen: "Hitler war derjenige, der den großen Überblick hatte. [...] Die Richtung musste von oben vorgegeben werden, die Feinarbeit konnte man den Subalternen überlassen". Gleichzeitig wendet er sich mit Nachdruck gegen den Versuch, den Holocaust mit "ethnischen Säuberungen" der Gegenwart gleichzusetzen.

Bei der detaillierten Schilderung des Widerstands gegen den Nationalsozialismus fällt auf, dass Burleigh einerseits fordert, die Konservativen nicht "ahistorisch an den Maßstäben des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland zu messen", andererseits jedoch selbst die Verfassungsvorstellungen des Kreisauer Kreises kritisiert. Verwundern muss zudem seine Aussage, die Motive des kommunistischen Widerstands erführen im Gegensatz zu anderen Gruppen "in aller Regel" keine kritische Prüfung.

Michael Burleigh ist kein Anhänger der Sozialgeschichte und verleiht seiner diesbezüglichen Überzeugung oftmals deutlichen Ausdruck. Wenn man allerdings mit dem Anspruch angetreten ist, eine "Gesamtdarstellung" des Nationalsozialismus vorzulegen, erscheint es sinnvoll, sich auch mit der sozialgeschichtlichen Literatur kritisch auseinander zu setzen. Der britische Historiker hat sich jedoch - zumindest entsteht dieser Eindruck - über weite Strecken eher für deren Nichtbeachtung entschieden. In einer "großen historiographischen Synthese" sollten zudem auch die Außen- und die Wirtschaftspolitik etwas eingehender dargestellt werden. Personen wie Ribbentrop oder Speer treten bei Burleigh jedoch kaum in Erscheinung. Schließlich verdient die Kennzeichnung bestimmter wissenschaftlicher Positionen, die ein derartiges Etikett nicht verdient haben, als "gegenwärtige Orthodoxie" Kritik. Hier führt Burleigh eher ein Scheingefecht als eine wissenschaftliche Auseinandersetzung.

Diese Einwände sollen den positiven Gesamteindruck indes nicht trüben: "Die Zeit des Nationalsozialismus" ist ein gut lesbares Buch, das in vergleichbaren Darstellungen (zu) kurz abgehandelte Themen ausführlich erörtert und durch pointierte Urteile des Autors zu Widerspruch und Diskussion herausfordert.

Titelbild

Michael Burleigh: Die Zeit des Nationalsozialismus. Eine Gesamtdarstellung.
Übersetzt aus dem Englischen von Udo Rennert und Karl Heinz Siber.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
1088 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-10: 3100090055

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