Für eine kleine Literatur

"Kritik und Klinik": Gilles Deleuze und die Minorisierung der Sprache

Von Marc RölliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marc Rölli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Kritik und Klinik" - der für eine "Aufsatzsammlung" seltsam monumental klingende Titel bezeichnet ein altes Projekt von Gilles Deleuze, das er in vielen seiner Arbeiten umkreist hat, ohne es jemals ausdrücklich und systematisch zu realisieren. Mit dem Austausch von ein paar Konsonanten werden die beiden im Titel stehenden Begriffe ununterscheidbar. Auf diese Weise suggeriert Deleuze von vornherein ihre eigentümliche Zusammengehörigkeit. Sie wird in der Aufforderung thematisch, die philosophische Kritik im Hinblick auf klinische Erfahrungen zu radikalisieren. In den vorliegenden Aufsätzen widmet sich Deleuze dieser Problematik, indem er hauptsächlich die Zeichensysteme bestimmter Literaturen analysiert, die sich für Erfahrungen "an der Grenzlinie der Sprache" offen halten, ohne dabei dem klinischen (Krankheits-) Zustand zu verfallen.

Das Motto des Buches, das Deleuze aus Marcel Prousts "Gegen Sainte-Beuve" entnommen hat, läuft wie ein roter Faden durch die einzelnen Texte: "Die guten Bücher sind in einer Art Fremdsprache geschrieben." Diese genuin von der Kunst ausstrahlende Fremdartigkeit analysiert Deleuze immer wieder in den Werken von Artaud, Kafka und Beckett: Stets handelt es sich darum, die geläufigen grammatikalischen und syntaktischen Codes zu durchbrechen, indem auf nicht-sprachliche Werdensprozesse Bezug genommen wird, die die Sprache als Sprache ins Stottern bringen. Gleichzeitig verweisen diese Werdensprozesse auf eine Fremdheit der Kunst, die darin besteht, für minoritäre Existenzweisen zu schreiben, die "durch den Menschen und im Menschen eingesperrt" sind und folglich von den majoritären Ordnungsformen und Machtverhältnissen an den Rand gedrängt werden. "Das heißt, dass sich ein großer Schriftsteller stets wie ein Fremder in der Sprache befindet, in der er sich ausdrückt, selbst wenn es seine Muttersprache ist."

Das Leitmotiv der von Deleuze praktizierten Literaturkritik wird in sämtlichen Aufsätzen von "Kritik und Klinik" variiert: die Entregelung der Sprache, die sich im klinischen Ausfall dokumentiert und mittels künstlerischer Verfahren auf produktive Weise zum Ausdruck gebracht wird: "Denn das Problem liegt nicht im Überschreiten der Grenzen der Vernunft, sondern im siegreichen Überschreiten jener der Unvernunft." Schreiben heißt nicht, Geschichten erfinden, Meinungen äußern oder Erinnerungen erzählen. Vielmehr dringen die Schriftsteller in eine Sprache ein, die kein homogenes System konstanter Verhältnisse ist, sondern ein komplexes System im fortwährenden und nicht kontrollierbaren Ungleichgewicht. Deleuze sucht in der Literatur nach Fremdsprachen, die von Perzeptionen und Empfindungen handeln, in welchen sich präsubjektive Individuationen bzw. affektive Selbstwahrnehmungen abspielen. In diesem Sinn vollzieht sich in der Kunst eine Sensibilisierung für die Welt - gerade im Zerschlagen der Klischees und im Verlust der Persönlichkeit. Deshalb betont Deleuze: "Die wohlgeformte Rede war nie das Besondere noch die eigentliche Sache großer Schriftsteller." An dieser Stelle steht beispielsweise Kleist für eine Minorisierung der Sprache, die sich direkt gegen Goethe richtet. "Und Kleist, welche Sprache erweckte er aus dem Grund des Deutschen, mit Krämpfen, Fehlern, Knirschen, unartikulierten Lauten, gedehnten Verbindungen, gewaltsamen Beschleunigungen und Verzögerungen, die den Abscheu Goethes hervorrufen mussten, des größten Repräsentanten der deutschen Sprache - um schließlich wahrhaft fremdartige Visionen [...] zu gewinnen."

Die Texte über "die Literatur und das Leben" und über das "Stottern" entfalten vor allem das angesprochene Leitmotiv, das von Deleuze in dem bereits 1970 erschienenen Aufsatz über Louis Wolfson, den "schizophrenen Sprachenstudenten", zur Ausführung gebracht wurde. Dort heißt es formelhaft lacanianisch: "Die Psychose ist nicht von einem variablen linguistischen Verfahren zu trennen. Das Verfahren ist der psychotische Prozess selbst." (Außerdem geht die Erfindung des Walkman angeblich auf Wolfson zurück, nämlich auf seine Verwendung des Stethoskops als Kopfhörer, an das ein tragbares Tonband angeschlossen ist: Dabei handelt es sich um eine schizophrene Bastelei, die vor den mütterlichen Wortsalven schützen soll.) Essays über Whitman, T. E. Lawrence und Herman Melvilles "Bartleby" verfolgen auf eher eigentümliche Weise das kleine Thema von Sinn und Ereignis in der Sprache. Zwei kurze Texte über Sacher-Masoch und Lewis Carroll - Autoren, denen Deleuze schon früher eingehende Studien gewidmet hat - ergänzen das literarische Panorama von "Kritik und Klinik".

Die philosophisch interessierten Leser werden zwei ältere Texte über Nietzsche wiederfinden und doch vor allem den zwei neuen Aufsätzen Aufmerksamkeit schenken, die schon im Titel eine "Re-Präsentation" Spinozas und Heideggers versprechen. Aus Platzgründen werde ich nur einige Bemerkungen zu dem Text über Heidegger machen - weil Deleuze insgesamt viel über Spinoza, doch wenig über Heidegger geschrieben hat. Deleuze war sicherlich von Heidegger stark beeinflusst - wie alle so genannten Poststrukturalisten; gleichwohl hat er sich kaum zu diesem Einfluss geäußert. Auch in "Kritik und Klinik" weicht er nicht von seinem Verfahren des "indirekten Diskurses" ab und kündigt an, über einen "verkannten Vorläufer Heideggers" sprechen zu wollen: den "Pataphysiker" Alfred Jarry.

In drei Abschnitten erörtert Deleuze Gemeinsamkeiten von Jarry und Heidegger - und stets ist es die kleine Sprache des Schriftstellers, die der Terminologie des Philosophen eine humoristische Wiederholung aufzwingt. Der Text beginnt wie folgt: "Die Pataphysik (ept meta ta physika) hat präzise und ausdrücklich folgenden Gegenstand: die große Kehre, die Überwindung der Metaphysik [...]. So dass man das Werk Heideggers als eine Entfaltung der Pataphysik begreifen kann, und zwar in Übereinstimmung mit den Prinzipien von Sophrotatos dem Armenier und seinem ersten Schüler Alfred Jarry." Zunächst problematisiert Deleuze das "Sein" des Phänomens, das sich von der "Gegebenheit" des Phänomens unterscheidet. Die Verborgenheit dieses Seins gehört zur Art und Weise des Phänomens, sich zu zeigen. Die sprachlichen Verschiebungen, die Deleuze mit Jarry an der Heideggerschen Syntax vornimmt, machen deutlich, dass Deleuze zur "Verherrlichung des Lebens" beitragen will, indem er den unvermeidlichen Seinsentzug zum Symbol eines "rotierenden Denkens" macht, das nicht vor dem Seyn "andächtig" auf die Knie sinkt.

In einem zweiten Schritt behandelt Deleuze das Problem der Technik, die laut Heidegger qua "Gestell" die zeitgenössische Endgestalt der Metaphysik sein soll: die Vollendung der Seinsvergessenheit. Mit großer Dreistigkeit präsentiert Deleuze das "pataphysische Fahrrad" Jarrys als das Modell einer Maschine, welches die Rettung gewährt, die in der Gefahr der Technik beschlossen liegt. Jarry entwickelt eine virtuell-strukturale Maschinentheorie, die sich auf das "Sein" des Menschen beziehen lässt und eine "Versöhnung von Maschine und Dauer" anzeigt. Das Seinspotential, das Heidegger der Technik vorenthält, wird in die Maschinentheorie integriert - was nachhaltig den Begriff der Maschine verändert. (Man denke an den "geistigen Automaten" Spinozas.) "Darum erfindet Ubu [eine Romanfigur Jarrys: der Anarchist] die Pataphysik gleichzeitig mit der Beförderung der planetarischen Technik: er begreift das Wesen der Technik - jenes Begreifen, das Heidegger unvorsichtigerweise dem Nationalsozialismus gutschreibt." Bei Heidegger formiert sich das Gestell der Technik zum reinen Verblendungszusammenhang.

Drittens erörtert Deleuze das Verhältnis von Technik und Kunst. Es besteht kurz gesagt darin, dass das wissenschaftliche "Gestell" unfähig ist, die ontologischen Zeichen zu explizieren: eine Aufgabe, die nicht nur bei Heidegger der Kunst zufällt. Allerdings macht Jarry den Übergang von der Technik zur Poetik im Spiel der Welt sichtbar, genau dort, wo Heidegger es versäumt, ihn zu erkennen. Zwar expliziert Heidegger die Zeichen im Rückgriff auf altgriechische Etymologien etc., das heißt, er sucht in der Sprache eine wesentliche Fremdheit, aber "freilich nur um ein neues Deutsch zu gewinnen." Jarry verfährt auf dieselbe Weise, wenn er im Französischen Latein, Altfranzösisch, "einen überlieferten Argot oder vielleicht Bretonisch" ins Spiel bringt. "Von einem Element zum anderen, zwischen der alten Sprache und der gegenwärtigen, die von ihr affiziert wird [...], reißen Klüfte und Lücken auf, die allerdings mit unermesslichen Visionen angefüllt sind." Eine Minderheitensprache definiert sich nicht über ihren besonderen Dialekt, sondern durch die Art und Weise, wie sie die dominierende Sprache behandelt. An den Grenzen des Sprachlichen regt sich in der Sprache eine unbekannte Fremdsprache, die zu stottern, murmeln, stammeln beginnt, die das Außen der Sprache hervortreten läßt. "Beckett sprach davon, ,Löcher' in die Sprache zu ,bohren', um das zu sehen oder zu hören, ,was dahinter hockt'."

Titelbild

Gilles Deleuze: Kritik und Klinik.
Übersetzt aus dem Französischen von Joseph Vogl.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
200 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 3518119192

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