Flucht in die Neue Welt

Josef Haslingers Roman "Das Vaterspiel"

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist der November des Jahres 1999. Überraschend hat sich der Winter eingestellt. Ein Auto schlittert auf einer kaum passierbaren Landstraße von Wien nach Linz. In der Windschutzscheibe hat gerade der Bildschirmschoner eingesetzt: Schneeflocken wirbeln wie bunte Sternchen durcheinander, rasen wie Meteoriten auf den Fahrer zu. Jetzt heißt es, den siebten Sinn zusammennehmen. Das Auto, merkt man schnell, fungiert als Zeitmaschine zurück in die Vergangenheit seines Lenkers. Der heißt Rupert Kramer und möchte den nächsten Flug nach Frankfurt und von dort das Flugzeug nach New York erreichen. Mit seinen 35 Jahren ist er eine mehr oder minder verkrachte Existenz und von daher nicht ganz unsympathisch. Er führt durch den österreichischen Strang des neuen Romans von Josef Haslinger.

Rupert hatte gerade einmal Zeit, ein paar Unterhosen in seine Tasche zu stopfen und der Mutter schonend beizubringen, dass er in die USA reisen würde, um seiner Studienfreundin Mimi beim Umbau einer Wohnung zu helfen und die eigene Karriere etwas anzukurbeln. Noch wenige Stunden zuvor hatte er nicht den Hauch einer Ahnung, welche Wendung sein aus allen Adoleszenzphasen fallendes Slacker-Dasein nehmen könnte: der bisherige Rhythmus von Onanie, Joint danach und Computerspielexzessen jedenfalls wurde selbst einem Nerd wie Rupert langsam zu monoton. "Aber dann hatte Mimi angerufen und ich war losgefahren. Zwar hatte ich um ein paar Stunden Bedenkzeit gebeten. Aber es gab nichts zu bedenken. Es sollte nur nicht so aussehen, als hätte ich sonst nichts zu tun. Ich ging ein paar Mal im Kreis, dann rief ich zurück. Viel zu schnell. Mir fehlte jede Reserve."

Das ist gut gesagt: Wer nach dem letzten sich bietenden Strohhalm greift, verliert nicht viel Zeit mit vornehmer Zurückhaltung. Und überhaupt war schon für so manchen Helden die Flucht in die Neue Welt der direkteste Weg zum Erfolg: Ruperts Leben scheint sich von diesem Moment an aus einer gewissen Schieflage in Richtung Karriere zu biegen. Das selbst diagnostizierte "Desaster meiner ganzen Existenz", das sowohl seine finanzielle Situation als auch seine abschreckende Wirkung auf die Frauenwelt umschreibt, soll sich nun endlich umkehren.

Vor allem aber will Rupert, der physiognomischer Eigenheiten wegen sein Leben lang unter dem Spitznamen "Ratz" (Ratte) leiden musste, seinen Vater-Komplex abschütteln. In den wenigen Stunden mitten auf Österreichs Landstraßen offenbaren sich in der Erinnerung seine Jugendtraumata, und zwar so deutlich, dass jedem Psychiater das Herz aufgehen würde. Der Vater-Sohn-Konflikt wird in allen möglichen Varianten durchgespielt, als wäre der Autositz die berüchtigte Couch. Mit der Reise nach New York verbindet Rupert die Hoffnung, sein mit einigem Eifer entwickeltes "Vaterspiel" endlich groß herauszubringen: Das Computergame simuliert die ausgefallensten Methoden, mit denen man Daddy quälen und zur Strecke bringen kann. Man erfährt auch von der Geburtsstunde des Erfinders Rupert: "Spät in der Nacht rief mein Vater an. Er sagte, ich weiß jetzt, wo deine Mutter ist. Er sagte: deine Mutter, schon allein dafür hasste ich ihn. Wo?, fragte ich. Daraufhin mein Vater: Beim Service. Ich legte den Hörer auf. Von da an bekam meine Arbeit am Computer eine neue Note. Ich erfand Vatervernichtungsspiele. Am Anfang waren es einfache Clip-Art-Animationen, die sich aber im Laufe der Jahre zu einem Videospiel mit dem eingescannten Foto meines Vaters entwickelten, das ich allen nur erdenklichen Arten von Torturen aussetzen konnte." Service, sollte man anmerken, ist des Vaters Umschreibung für die Dienste einer Schönheitsklinik, in die sich die Mutter aus Verzweiflung begibt. Sie möchte ihren Mann - aus welchen Gründen auch immer - nicht verlieren.

Das gelingt nicht, selbst als die Altersflecken verschwunden sind: Er verlässt die Familie für eine junge "Schnepfe" und komplettiert damit das Sittengemälde des einstmals idealistischen Sozialisten, der zum korrupten SPÖ-Politiker degeneriert, zum Minister aufsteigt, über seine lukrativen Zusatzgeschäfte stolpert, am Ende im Skandalsumpf absäuft und obendrein alle anderen tradierten Werte über den Haufen wirft. Zu guter Letzt streicht er seinem Sohn auch noch die monatliche Finanzspritze. Das kann aber dessen Hass, der sich nicht gerade im Unbewussten staut, kaum mehr steigern.

Es wird Rupert also eindringlich vorgeführt, wie man nicht werden sollte. Eine Gegenutopie kann er allerdings auch nicht entwerfen. Vielleicht macht ihn das zu einer über alle Moden erhabenen, immer wieder zeitgenössischen Versagerfigur: Er ist selbst für ein bisschen Rebellion zu schwach. Stattdessen versucht er es mit der Welt auf einer Ebene aufzunehmen, auf der sie am Ende des 20. Jahrhunderts schließlich auch angekommen ist: der virtuellen. "Zur Entspannung schlachtete ich meinen Vater." Natürlich per Joystick. Freud, übernehmen Sie!

In aller epischen Breite, aber stellenweise sehr witzig, liefert Haslinger die Sitten- und Verfallsgeschichte einer sozialdemokratischen Familie in Österreich. Er lässt Rupert in weitschweifigen Rückblenden an die Ausbruchsversuche seiner Schwester Klara zurückdenken oder an die Kämpfe, die der sozialistische Vater mit seinem erzkonservativen Schwiegervater auszufechten hatte. In vielen Einstellungen sind es die Gegenstände am Bildrand, die fokussiert werden. Detailreich wird geschildert, wie die väterliche Autorität nach und nach an Ausstrahlungskraft verliert, geradezu unterminiert wird: "Ich schaute auf diese seltsame Erscheinung im grauen Nachthemd, die da überraschend in meiner Tür stand, und bemerkte plötzlich in der Höhe seines Schwanzes einen frischen feuchten Fleck. Ich konnte die Augen nicht mehr davon abwenden."

Der minuziöse Realismus, in dem uns zugleich der Zersetzungsprozess der Familie und die Abstumpfungstendenzen des Sohnemanns vor Augen geführt werden, hat natürlich Methode. Wie Haslinger die Geschichte aufrollt, dehnt und streckt, das Milieu abfotografiert, abtastet, so dass die Bilder immer schon eher atmosphärisch aufgeladen sind als dass sie einen Schnappschusscharakter annehmen; wie er die Kapitel verknüpft und aus ihnen heraus geschickt voraus- und zurückweist - all das ist nicht nur sehr gekonnt gemacht, es ist äußerst unterhaltsam. Die beim Lesen empfundene Lust, sich weiter in den Grabenkämpfen der Familie zu verlieren und dem Helden auf seinem eher traurigen Weg zu folgen, immunisiert dann auch ein wenig gegen die Schwachpunkte des Buches. Ganz leugnen lassen diese sich allerdings nicht: Sie hängen mit dem schleppenden, aber doch irgendwie zum Erzählten passenden Rhythmus zusammen. Vor allem aber mit den anderen Bestandteilen des Buches - und damit, wie diese verknüpft werden.

Es gibt nämlich noch weitere Familiengeschichten im "Vaterspiel". Eine davon ereignet sich knapp 60 Jahre früher und etwa 900 Kilometer nordöstlicher in Litauen. In Protokollform werden die Aussagen des in die USA emigrierten Juden Jonas Shtrom zwischen die Rupertschen Erinnerungsbrocken geschoben. Der Tonfall ändert sich, gleitet in einen sachlichen, gleichwohl bewegenden Erinnerungsbericht eines Holocaustüberlebenden, der seine Erinnerungen 1959 der "Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen" vorlegte.

Haslinger hat sich ausgiebig mit der Geschichte der Judenverfolgung in Litauen auseinander gesetzt und entwirft ein nahe gehendes Porträt einer Familie in Kaunas: Der Vater von Jonas Shtrom wird gleich in den ersten Tagen der von den Nazis und ihren litauischen Helfern durchgeführten Massaker umgebracht. Einen der litauischen Täter entdeckt Shtrom Jahre später in den USA wieder. Womit sich der Fluchtpunkt für alle wesentlichen Figuren im "Vaterspiel", aber auch die eigentliche literarische Heimat des Autors Josef Haslinger auftut.

Seit seinem Romandebüt "Opernball" (1995) gilt der Österreicher als der amerikanischste unter den deutschsprachigen Autoren. Die Sehnsucht nach einem Schriftsteller, der in einfachen Sätzen eine packende Geschichte erzählen kann, war ja Mitte der 90er Jahre im hiesigen Literaturbetrieb schier grenzenlos. Manch ein Lektor richtete seinen Gebetsteppich gen USA aus, wenn er verzweifelt verkäuflichere Literatur herbeiflehte. Der Politthriller "Opernball" war dann sozusagen das Beweisstück: Es geht doch! Er befriedigte das Leserherz und die Kritikerseele, das ist mehr als die meisten, teuer aus Amerika importierten One-Hit-Wonder zu leisten imstande sind. Ein spannender Plot, formal reizvoll umgesetzt, das brisante und aktuelle Thema Rechtsextremismus und immer wieder auf die individuelle Ebene rückgekoppelte Verstrickungen in die Wirren des 20. Jahrhunderts machten den Essayisten Haslinger zu einem bekannten Romancier.

Wenn das Thema diesmal auch ein anderes und weniger explosives ist, bleibt das Grundprinzip im "Vaterspiel" doch ähnlich: Die große Welt der Politik und Geschichte spiegelt sich im Mikrokosmos - und umgekehrt. Dafür gibt Haslinger seinen Erzählern viel Raum und viel Zeit. Die beiden Parallel-Stränge des Romans könnten wie zwei Geraden endlos nebeneinander herlaufen und sich erst in der Unendlichkeit treffen, wenn da nicht Mimi wäre, die einzige Frau im Leben Ruperts, mit der es einmal zu einer Art Austausch von Körperflüssigkeiten gekommen ist. Und bei diesem erzählerischen Schlenker muss man schon viel guten Willen aufbringen. Bei Mimi in den USA laufen die Fäden zusammen und verheddern sich auch ein wenig. Mimi wird zum überforderten Verbindungsglied zwischen Österreich und Litauen. Ihr Großonkel ist der von Jonas Shtrom erkannte Täter des Massakers von Kaunas. Die Situation hat sich umgekehrt. Nun ist er es, der sich verstecken muss, seit dreißig Jahren; Rupert soll den Unterschlupf in einem Keller weiter ausbauen. Der tut das auch und freundet sich sogar mit dem Massenmörder an, obwohl er dessen Geschichte kennt.

Zugleich gelingt es ihm, sein Vaterspiel gewinnbringend zu vermarkten. Richtig auskosten kann er seinen Triumph allerdings nicht, denn Ex-Minister Kramer hat sich rechtzeitig selbst aus dem Leben befördert: Ratzfatz ist Rupert aus der Rolle des Sohnes entlassen. Das Vaterspiel aber, in dem es immer um Macht, Hierarchien und Gewalt geht, läuft weiter - sowohl virtuell als auch in der, naja, Wirklichkeit.

Titelbild

Josef Haslinger: Das Vaterspiel. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
576 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3100300548

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