Die Freiheit zum Tode

Gerd Mischlers Kulturgeschichte des Suizids

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gerd Mischler, Redakteur in München, hat ein Buch mit dem ansprechenden Titel "Die Freiheit, das Leben zu lassen" vorgelegt. Anders als in bisherigen Studien zur Kulturgeschichte des Suizids richtet er das Augenmerk auf den öffentlichen Umgang mit den Suizidanten und ihrer Tat. Und ebenfalls anders als die meisten bisherigen Untersuchungen geht er über den europäischen Kulturkreis hinaus und behandelt, allerdings eher schlaglichtartig, "rituelle Freitode im Hinduismus", "Selbsttötung bei den Indianern Nordamerikas" oder den "Freitod in Japan". Er hat also sehr viel in die 250 Seiten des Buches gepackt, so dass vieles an der Oberfläche bleiben muss. Etwa die dem Kursus durch die Suizidgeschichte Europas vorangestellte Beantwortung der Frage "Was ist 'Suizid'?" Mischler reiht einige biologistische, psychologische und soziologische Erklärungen aneinander, ohne sie gegeneinander abzuwägen oder auf ihre Stichhaltigkeit hin zu befragen. Auch enthebt er sich gleich eingangs den Mühen einer reflektierten und differenzierten Begrifflichkeit, indem er die Ausdrücke Freitod, Suizid, Selbsttötung und Selbstmord explizit "nebeneinander verwendet" und zu dem "moralischen Urteil", das mit jedem der Begriffe einhergeht, lapidar bemerkt: "Nicht immer entspricht diese Wertung meiner eigenen Meinung." Dass es bei einem derart unscharfen Sprachgebrauch zu absurden Formulierungen kommt, wundert nicht. Geradezu zynisch klingt Mischlers Rede von den "zahlreiche[n] Freitode[n] in den KZs". Allerdings soll nicht unerwähnt bleiben, dass er an anderer Stelle nahe legt, es habe sich beim "Freitod der [von den Nazis] verfolgten Juden" um einen "indirekten Mord" gehandelt, "bei dem sich der Mörder der Hand des Opfers bedient" hat.

Mischlers Definition seines Untersuchungsgegenstandes ist weit gefasst, versteht er unter Suizid doch jede "Selbstschädigung, von der der Einzelne wissen muß und kann, daß sie zu seinem Tod führt". Es zeigt sich schnell, dass er außerdem sogar etliche Handlungen darunter subsumiert, von denen nur nicht auszuschließen ist, dass sie zum Tod führen, wie etwa das Rauchen, das Duell oder die Teilnahme an Kriegen und Kreuzzügen. Auch erzwungene (Selbst-)Morde, wie die Witwenverbrennung oder der gereichte Schierlingsbecher fallen nach Mischler unter die Rubrik "Suizid". Kein Wunder also, dass der Autor der "Verschiedenartigkeit" allein der "Freitode im 20. Jahrhundert [...] kaum gerecht werden" kann. Zumal er dazu auch die "Tode von bulimierenden Girlies, Amokläufern, Fans oder S-Bahn-Surfern" rechnet.

Mischlers Gang durch die europäische Kulturgeschichte des Suizids macht fast zwei Drittel des Buches aus und besteht überwiegend aus anekdotisch erzählten Selbsttötungen und Statistiken. Als Quellen dienen ihm im Wesentlichen kaum mehr als eine handvoll Titel der Sekundärliteratur der letzten Jahre, allen voran "Die Signatur der Freiheit" von Friedhelm Decher (den er stets falsch Delcher schreibt), die "Geschichte des Selbstmords" von Georges Minois sowie Philippe Ariès' "Geschichte des Todes". Entdeckungen wird man also kaum machen können. Selbst leicht zugängliche Schriften, wie Giacomo Casanovas jüngst wieder aufgelegte "Abhandlung über den Selbstmord", werden nicht im Original herangezogen, sondern nur in Verweisform kurz erwähnt. Bei anekdotisch ausgeschmückten 'Suizid-Geschichten' sucht man des öfteren völlig vergeblich nach Quellen, so bei Kleopatra VII oder Vincent van Gogh.

Mischlers abschließendes "Plädoyer für einen anderen Umgang mit dem Freitod" ist zwar ehrenwert, und dass "der Zwang zum Suizid [...] ebenso menschenverachtend" sei wie "seine Ächtung und sein Verbot", dürfte unstrittig sein - sieht man hinsichtlich letzterem einmal von der Haltung der Katholischen Kirche ab. Doch ist Mischler nicht frei von einer paternalistischen Einstellung gegenüber den Suizidanten, die, wie er meint, der Hilfe bedürfen. Diese, so scheint es, kann nur darin bestehen, ihren Tod zu verhindern, nicht etwa darin, ihnen beim Sterben zu helfen. Ja man habe sogar die "Pflicht, das Leben des Suizidanten zu retten", da nie eindeutig sei, ob er wirklich sterben wolle. "Nur eines" lasse sich "mit Sicherheit" sagen: "Auch der Suizidant leidet unter seinem Entschluss. Er will bleiben, doch er kann nicht." Wie der Autor sich allerdings gerade dessen so sicher sein kann, verrät er nicht.

Mischler beschließt sein Buch mit dem Resümee, dass "der Selbstmörder Respekt" verdiene. Eine in dieser Allgemeinheit anfechtbare Haltung. Man denke nur an Hitler oder den Terroristen, der sich mit möglichst vielen seiner Mitmenschen in die Luft sprengt.

Der Suizidant 'an sich' verdient weder Respekt noch Mitleid, noch Verachtung, noch Hilfe, noch sonst etwas. Was Suizidanten 'verdienen' ist so vielfältig wie die Gründe, die sie für ihre Tat haben.

Titelbild

Gerd Mischler: Von der Freiheit, das Leben zu lassen. Kulturgeschichte des Suizids.
Europa Verlag, Hamburg/Wien 2000.
255 Seiten, 17,60 EUR.
ISBN-10: 3203800640

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