Wollen Liebende sicheren Sex?

PhilosophInnen analysieren die Liebe

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Frauen, so heißt es, stünden Philosophen nicht auf besonders gutem Fuß. Wie aber verhält es sich dann mit der Liebe? Anette Baier weiß eine ganze Reihe von "philosophischen Misamoristen" aufzuzählen, Philosophen also, "die den Ansprüchen der Liebe misstrauen". Sie fällt ihr Verdikt - und dass es sich um ein solches handelt, wird schnell deutlich - in dem von Dieter Thomä herausgegebenen Sammelband "Analytische Philosophie der Liebe".

Der Titel des insgesamt sehr lesenswerten Buches verspricht weniger als es hält, sind doch nur einige der Beitragenden - in der überwiegenden Mehrzahl Frauen - der Analytischen Philosophie in engeren Sinne zuzurechnen. Gerade die Aufsätze, in denen es besonders 'analytisch' zugeht, zählen zu den schwächeren, wie etwa derjenige von Gabriele Taylor, bei dessen Titel "Liebe" man beinahe den Eindruck hat, es handele sich um Etikettenschwindel. Ist von Liebe doch kaum die Rede. Stattdessen operiert die Autorin gerne mit Zeichen, was sich zum Beispiel so liest: "x kann zu Recht oder Unrecht glauben, daß y ? ist, oder das y, wenn er ? auch f ist". Es kann bezweifelt werden, ob eine derart formalistisch-formalhafte Sprache geeignet ist, sich der Liebe zu nähern - und sei es auch nur als Erkenntnisobjekt.

Doch reicht das Spektrum der vertretenen Philosophien über die engere Analytische Philosophie hinaus. Einige der Aufsätze begeben sich zudem tief in die Philosophiegeschichte. Sie zentrieren sich um zwei Philosophen: den homosexuellen Platon und den misogynen Misamoristen Kant.

Mit Platons Liebeskonzept befassen sich die Beiträge von Gregory Vlastos und Martha C. Nussbaum. Der von Vlastos erschien erstmals 1973 und wird von Nussbaum zu Recht als "bahnbrechend" bezeichnet. Er stellt das Liebesverständnis des Aristoteles dem Platons gegenüber, das bei diesem Vergleich nicht sonderlich gut abschneidet. Vlastos zeigt, dass der "Egozentrismus der Nutzen-Liebe", dem die platonische Idee, das eidos, als höchstes und letztlich einzig wahres Objekt der Liebe gilt, ein durchgängiges Wesensmerkmal von Platons Liebesphilosophie ist. Gegenüber dieser Liebe kommt derjenigen zu Personen nur ein geringer Rang zu. Positiv vermerkt Vlastos hierzu, dass der Gründer der Akademie als erster erkannte, wie erotisch "Bindungen an so abstrakte Objekte wie soziale Reformen, Lyrik, Kunst, Wissenschaften und Philosophie" sein können. Doch spiele in Platons Auffassung der Liebe "das Gespür für die Freiheit und Achtung vor der Integrität der geliebten Person" keine Rolle. Nirgends deute Platon auch nur an, dass der Zweck des eros darin bestehen könnte, "das Leben von Personen zu bereichern, die der Liebe um ihrer selbst willen wert sind". Dass der Geliebte selbst ein "wertendes Subjekt" ist, dessen Wünsche denjenigen des Liebenden sehr wohl auch dann widersprechen können, wenn er die Liebe erwidert, komme Platon nicht in den Sinn. Liebe sei entgegen der Auffassung Platons, so zitiert Vlastos Aristoteles mit unverkennbarer Sympathie, "einem anderen das wünschen, was man für Güter hält, und zwar um dessent- und nicht um unseretwillen und nach Kräften dafür tätig sein."

Julia Annas und Barbara Herman setzen sich mit Kants Liebesauffassung auseinander. Annas' Versuch, ihre Kritik der kantischen Ethik am Beispiel der Figur Innstetten aus Fontanes "Effi Briest" darzulegen, vermag nicht zu überzeugen. Die Autorin selbst gesteht ein, dass ihre "Darstellung der kantischen Behauptung über die Universalität des moralischen Urteils [...] stark zurechtgestutzt" ist. Doch gilt dies für ihre Darstellung von Kants Moralphilosophie insgesamt. Nur so wird es überhaupt möglich, Instetten zum moralphilosophischen "Schulbeispiel für einen Menschen im Sinne Kants" zu erklären. Innstettens fremdbestimmter Verhaltenskodex hat jedoch nichts mit Kants "moralischem Gesetz in mir" zu tun.

Barbara Hermans Thema ist nicht so sehr die Theorie der Liebe des 'galanten Magisters' als vielmehr seine Auffassung von Sexualität und ihrer Negation der Moral. Trotz Kants Misogynie, trotz "seiner Verachtung für den Körper und trotz seines unglücklichen Status als der für Feministinnen anstößigste moderne Moralphilosoph" vertritt Herman die Auffassung, dass er "in bestimmten Punkten hinsichtlich der Moral sehr recht" habe. Zwar haben auch andere feministische Philosophinnen Anknüpfungspunkte bei Kant gefunden, so im deutschsprachigen Raum unter anderen Hertha Nagl-Docekal und Herlinde Pauer-Studer oder in Großbritannien etwa Onora O'Neill. Überraschend ist jedoch, dass Herman eine besondere Affinität zwischen Kants Sexualtheorie und derjenigen des Radikalfeminismus ausmacht, wie er von Andrea Dworkin und Catherine McKinnon vertreten wird. Die Übereinstimmungen werden anhand ausführlicher Zitate überzeugend aufgewiesen. Kant betreffend greift Herman vorwiegend auf seine außerhalb der engeren Kantforschung zu Unrecht weitgehend unbeachtete "Vorlesung über Ethik" zurück, geht aber später zur "Rechtslehre" über, weil sie dort ein "fruchtbareres" "Argument für die Ehe" findet. Mit der Ehe glaubt Kant die Moralwidrigkeit der Sexualität aufheben zu können.

Sexuelle Begierde, die sich Kant zufolge allein auf den Körper richtet, mache die begehrte Person zum bloßen Mittel der eigenen sexuellen Befriedigung, betrachte sie also nicht als Zweck an sich selbst. Ergo sei Sexualität per se moralwidrig. Zudem führe sie zu Abhängigkeit und Unterwerfung, was moralisch ebenfalls unzulässig sei. Kurz: Sexualität bringe den "moralischen Verlust des Selbst mit sich". Andrea Dworkin, so Herman weiter, gehe "ebenfalls von einer gegenseitigen Verdinglichung" beim Geschlechtsverkehr aus. Ihre "Grundidee", dass sich Sex mit dem "Status der Partner als gleichgestellter Menschen" nicht vereinbaren lasse, sei "sehr kantisch".

Natürlich bestehen zwischen den Auffassungen Kants und denjenigen der Radikalfeministinnen auch augenfällige Differenzen. Sie liegen zum einen darin, dass Kant zufolge "die Verdinglichung des anderen in der sexuellen Handlung ebenso natürlich wie unvermeidlich" sei, während es für Dworkin und McKinnon nicht ausgemacht ist, "ob der Grund der Verdinglichung der Geschlechtsverkehr an sich" ist oder ob dieser "verdinglichende soziale Strukturen zum Ausdruck" bringe. Eine weitere Differenz besteht darin, dass Kant die Geschlechterhierarchie der Abhängigkeit nicht realisiert, während der Radikalfeminismus das Geschlechterverhältnis als "Herr-Sklave-Verhältnis" erkennt.

Da nun nach Kant die Liebe nicht in der Lage ist, "die Autonomie und Gleichheit in sexuellen Beziehungen" sicher zu stellen, soll die Ehe das Problem lösen. Sie sei, zitiert Herman aus Kants "Vorlesung über Ethik", ein "Vertrag zweier Personen", mit dem sie Bedingungen eingehen, denen zufolge "ein jeder seine ganze Person dem anderen ganz übergibt, so daß jeder ein völliges Recht auf die Person des anderen hat." Hiermit sieht Kant sein moralisches Problem gelöst: "Wenn ich aber meine ganze Person der anderen weggebe und gewinne dadurch die Person des anderen in die Stelle, so gewinne ich mich selbst wieder". Trotz der argumentativen Faszination, die die Beweisführungen Kants und des Radikalfeminismus auf Herman ausüben, bleibt doch eine gewisse Reserviertheit unverkennbar. Am Ende ihres Beitrags trägt sie Bedenken gegen die Domestizierung der Sexualität in der Ehe vor. Wäre es nicht möglich, so fragt sie, dass "etwas Wertvolles [...] verloren ginge, wenn sexueller Ausdruck nicht mehr zutiefst privat und spontan wäre?"

Hermans Auseinandersetzung mit Kants Auffassung ist kenntnisreich und genau. Dennoch scheint sie für bestimmte Ungereimtheiten blind zu sein, die aus Kants Misogynität entspringen. So erwähnt sie nicht, dass in Kants Perspektive Frauen überhaupt nicht in der Lage sind, aus Moral zu handeln, sondern allenfalls moralgemäß. Das moralische Problem, das Sexualität mit sich bringt, wäre also zunächst einmal eines allein für Männer. Noch problematisiert Herman, dass Kant Frauen für bürgerlich unmündig und also vertragsunfähig hält. Wie sollen sie da einen Ehevertrag schließen und sich somit als Person zurückgewinnen können?

Glanzlichter des Bandes sind die Beiträge von Anette Baier und Amèlie Oksenberg Rorty. Sie sind ebenso luzide wie tiefgründig. Baier fragt, was es heißt, jemanden zu lieben - und, "ob das überhaupt eine gute Idee" sei. Allerdings sei es nicht unsere Entscheidung, sich zu verlieben. Es sei vielmehr etwas, das uns geschieht. Man habe zwar vielleicht "die Wahl, ob man eine Liebe erhalten will, doch nicht immer, ob man sie auslöst." Allerdings, so könnte man hinzusetzen, hat man doch immerhin die Wahl, Situationen zu vermeiden, die überhaupt erst die Möglichkeit eröffnen, sich zu verlieben.

Lieben, so Baier weiter, bedeutet, Risiken einzugehen. Riskiert werde unter anderem der Verlust der geliebten Person, ein "gebrochenes Herz, beherrscht oder betrogen zu werden, uns zu langweilen, auf eigenartige Weise Entsagung zu üben, speziellen Krankheiten und spezieller Schande ausgesetzt zu sein." Und es bedeutet nicht zuletzt das Risiko, "aufgrund der Liebe früher zu sterben" - und das nicht erst in Zeiten von Aids. Nur sei Liebe heute für alle so riskant, wie sie es für Frauen schon immer gewesen sei. Nun gibt es allerdings, wie Baier erwähnt, die Möglichkeit, sich vor Ansteckungen beim Geschlechtsverkehr zu schützen. Für Prostituierte, Gigolos oder einen one night stand komme das in Betracht. "Aber wollen Liebende sicheren Sex?" Gerade "ihr unsicherer Sex dürfte ein passender Ausdruck für ihre in jedem Fall unsichere Liebe sein." Das bedeutet selbstverständlich nicht, das eigene Leben oder das der geliebten Person leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Überraschenderweise unterscheidet Baier nicht zwischen der Bereitschaft, den eigenen Tod aus Liebe in Kauf zu nehmen, und der, den Tod der geliebten Person zu riskieren.

Amèlie Oksenberg Rorty trifft die erhellende Unterscheidung zwischen zwei grundsätzlichen "Arten der Liebe": der "dynamisch permeablen" und der "unhistorischen", die keinerlei Veränderungen in der Liebesbeziehung zulassen will. Zwar zeigt Oksenberg Rorty die Gefahren auf, die beiden Liebesformen innewohnen. Doch gilt ihre Präferenz ganz eindeutig der ersteren, der vielleicht "einzig wahren". Sie wandle sich mit jeder Veränderung der Liebenden. Permeabel sei sie, da "der Liebende sich durch sein Lieben" selbst verändere. Ihr anderes Wesensmerkmal, die Dynamik, bewirke, "daß jede Veränderung neue Veränderungen sowohl im Liebenden als auch in der Interaktion mit seinem Partner" hervorrufe. "Durch die Liebe verwandelt", nehmen die Liebenden einander auf neue Weise wahr, was wiederum die Liebe selbst ändere. So werde sie ständig neu geformt und könne daher auch dann Bestand haben, wenn sich etwas "in den Wesenszügen" der geliebten Person ändert; ja selbst dann noch, wenn sich "in denjenigen Zügen etwas ändert, die zunächst die Liebe geweckt haben und ihr Hauptbezugspunkt gewesen sind." Dass auch eine solche Liebe enden kann, sollte Liebende jedoch nicht dazu verleiten, "die Kontinuität ihrer Liebe dadurch sicherstellen zu wollen, daß sie die Konstanz lieber durch starre Undurchlässigkeit sichern", warnt Oksenberg Rorty.

Allerdings, so weiß sie, kann die Philosophie die Dilemmata der Liebenden nicht lösen, sondern nur versuchen, sie zu verstehen. "Da ihr Zustand und dessen Probleme historisch sind, das heißt besonders, müssen ihre Lösungen auch besonders sein."

Titelbild

Dieter Thomä (Hg.): Analytische Philosophie der Liebe.
mentis Verlag, Paderborn 2000.
233 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3897853000

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