Eine ästhetische Erfahrung der dritten Art

Andrea Kern über die Lust am Unvereinbaren

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was ist schön? Und was ist eine ästhetische Erfahrung? In Anschluss an Kant versucht die Potsdamer Philosophin Andrea Kern in ihrem Buch "Schöne Lust" eine neue Antwort auf diese alte Frage zu finden.

Ist Schönheit etwas, das dem Gegenstand zukommt und so vom Menschen nur noch erkannt werden muss? Offensichtlich nicht, da Schönheit keine Eigenschaft des Objektes ist, wie seine Farbe oder Form, die man wahrnehmen kann. Wir sprechen zwar von der Schönheit eines Gegenstands, als ob das Schöne am Gegenstand ablesbar wäre. Aber ein ästhetisches Urteil kann, so Kant und Kern, nicht auf objektive Bestimmungsgründe zurückgeführt werden, und daher ist es auch kein Erkenntnisurteil. Wenn wir also ein ästhetisches Urteil fällen, so ist dies eine subjektabhängige Gefühlsentscheidung. Und doch mehr: Wir stellen nämlich damit den Anspruch, dass jede/r beim Anblick dieses Gegenstandes das empfinden wird, was wir selbst als Grund für unser Urteil 'Das ist schön' erfahren, nämlich eine intersubjektive Lust, eine von bloß individuellen Interessen am Gegenstand losgelöstes Wohlgefallen. Damit wird diesem Urteil ein intersubjektiver Anspruch auf Allgemeingültigkeit unterstellt, was Kant als "Zweckmäßigkeit ohne Zweck" charakterisiert. Das Empfinden von Schönem ist also essentiell mit dem Gefühl der Lust verknüpft. Oder andersherum gesagt: Eine Aussage über die Schönheit eines Gegenstands zu treffen ist objektiv unbegründbar, und so darf der Gegenstand nichts bedeuten. Wenn wir also keine Lust bei der Kontemplation über einen vermeintlich schönen Gegenstand empfinden, so heißt das nicht, das dies ein hässlicher Gegenstand ist, sondern dass er überhaupt nicht ästhetisch betrachtet wird.

Diese Autonomie des ästhetischen Urteils aufgrund eines Lustgefühls ist aber unzureichend für eine ästhetische Erfahrung. Darüber hinaus muss ein Gegenstand auch ästhetischen Sinn machen. "Kunstwerke sind nach Kant Gegenstände, von denen wir nicht nur erwarten, dass sie schön sind, sondern von denen wir nachgerade verlangen, dass sie auch geistreich sind, d.h. es sind Gegenstände, von denen wir nicht nur erwarten, dass sie uns Lust bereiten, sondern von denen wir verlangen, dass sie uns auch etwas zu denken geben."

Diese Behauptung ist natürlich insofern problematisch, als sie der ersten Bedingung der ästhetischen Erfahrung, nämlich der objektiven Unbegründbarkeit des ästhetischen Urteils, zuwiderläuft. Denn, wenn etwas Sinn macht, ist es gerade nicht mehr zweckfrei. Insofern ist jede objektive Darstellung von etwas, was es selbst nicht ist, zweckhaft. Ein Beispiel wäre Rembrandts Gemälde "Bathseba im Bade": Sobald verstanden wird, dass etwas dargestellt ist (hier: eine badende Frau), wird ein Prozess der Interpretation und Bewertung des ästhetischen Geists beginnen, was einen Erkenntnisgewinn nach sich zieht und so als zweites Moment einer ästhetischen Erfahrung unvereinbar neben dem ästhetischen Urteilen steht.

Um diesem Widerspruch zu entgehen, erläutert Kern als nächstes das Konzept der Hermeneutik, die das ästhetische Verstehen (in Abgrenzung zu Kant) primär setzt. Da wir nie mit bloßen Sinnesdaten konfrontiert werden, lässt sich jeder Sinn auf Momente eines ursprünglichen Verstehens ("blinden Sehens") zurückbeziehen. Das Wahrnehmen ist damit zunächst ein Wiedererkennen: So sehen wir immer schon eine badende Frau in Rembrandts Gemälde und keine Farbflecken auf einer Leinwand. Sobald wir nun aber unser wiedererkennendes Sehen beziehen auf seine Gegebenheitsweise (als Bild einer badenden Frau), findet eine Überschreitung des zuerst gefundenen Sinnes statt. Dieser neu gewonnene Sinn bildet daraufhin die Grundlage für ein Verstehen auf tieferer Ebene. Dieser Vorgang kann unendlich oft wiederholt werden und produziert so einen Gegenstand von unendlich tiefem Sinn. Dies, so die Hermeneutiker, ist es, was eigentlich lustvoll für den Menschen ist: Indem die Bedeutung eines Gegenstands als fundamental angesehen wird, schrumpft die Lust am Schönen zu einem sekundären Phänomen, dass einzig auf das Verstehen des Gegenstandes zurückzuführen ist. Ästhetische Gegenstände sind - im hermeneutischen Sinne - daher nur schön, wenn sie geistreich sind. Auf diese Weise negiert die Hermeneutik aber die erste Bestimmung der ästhetischen Erfahrung nach Kant, nämlich die Lust als primäres "Konstituens des Ästhetischen".

Dies ist der Punkt, an dem Kerns eigene Überlegungen ansetzen. Sie versucht (wie die Hermeneutik) den Widerspruch in der kantischen Ästhetik aufzulösen und doch den Primat der Lust einer ästhetische Erfahrung zu erhalten.

Daher fragt sie, woraus die Lust am Schönen erwächst, und bestimmt die ästhetische Erfahrung (wiederum in Anlehnung an Kant) als Vollzug eines Spiels. Sie geht davon aus, dass man an jeden Gegenstand die Frage stellen kann, ob dieser schön sei. Diese "ästhetische Reflexion" bedeutet zu fragen, ob dieser Gegenstand anders als ein gewöhnlicher ist, also nicht einfach nur objektiv zweckmäßig.

Spannend wird es erst, wenn wir nicht entscheiden können, welchen Sinn ein Gegenstand macht, bzw. wenn ein Gegenstand unterschiedliche Bedeutungen 'verlangt', wobei die eine Interpretation die andere ausschließt. Dann liegt für Kern eine "ästhetische Unentscheidbarkeit" vor, die der Anlass für die grundlegende Lust am Ästhetischen ist. Ebenso wie in der Hermeneutik wird dabei ein blindes Sehen als Ausgangspunkt für jede weitere Bestimmung des Gegenstands angenommen. Anstatt aber nun diesen einen Sinn tiefer und tiefer zu bestimmen, sieht Kern die Basis für eine ästhetische Erfahrung in mindestens zwei sich widersprechenden Bedeutungen. Das heißt wenn die Antwort auf die spielgemäße Frage, ob dies ein rein zweckhafter Gegenstand sei, nicht eindeutig beantwortet werden kann, fallen wir nicht in einen immer tiefer gehenden hermeneutischen Sinn, sondern bleiben zwischen zwei Zirkeln des Verstehens stecken.

Damit unterläuft Kern das Problem der Hermeneutik: Statt das Verstehen zum Fundament der ästhetischen Erfahrung zu machen, liegt ihre Pointe darin, sich spielerisch des Verstehens zu enthalten. So lautet das Resümée: "Aus einem Gegenstand, dessen Bedeutung wir zunächst verstehen, wird ein Gegenstand, dessen Verstehen wir zurückhalten, weil wir in eine Situation der Unentscheidbarkeit geraten, der wir im ästhetischen Spiel Rechnung tragen. Schön nennen wir einen Gegenstand deswegen, weil der Vollzug eines ästhetischen Spiels ein Tun bezeichnet, das für uns lustvoll ist." Was genau eine "ästhetische Unentscheidbarkeit" ist, bzw. ob diese sich tatsächlich an allem Schönen finden lassen kann, bleibt bei Kern trotz mehrerer Beispiele unklar. Vielleicht reicht schon der darstellende Charakter eines Kunstwerks, um diesen Gegenstand in einem ästhetischen Spiel, an dem sich unsere Lust entzünden kann, als schön zu erachten. Wo findet man jedoch in Naturschönem die unabdingbare Unvereinbarkeit der Bedeutungen? Vielleicht in Rilkes "Rose, oh reiner Widerspruch". Auf jeden Fall, und das ist Kerns Argument, liegt diese Unentscheidbarkeit nicht am Gegenstand, sondern bleibt unbegründbar.

Damit gelingt es Kern, die zwei inkompatiblen Bestimmungen Kants zu verbinden: Zunächst ist der Gegenstand bedeutungsvoll. Dieser ästhetische Geist besteht nun aber im Gegensatz zur Hermeneutik nicht aus einem grundlegenden Sinn, sondern aus mindestens zweien, die sich widersprechen müssen. Damit wird unser gewöhnliches Verstehen unterbrochen, und wir können uns - statt auf die Bedeutung - nur auf die Form unseres Verstehens (d.h. auf den Bruch selbst, der keine Eigenschaft des Gegenstands ist) beziehen. Das ist das Vollziehen eines subjektiven Spiels, welches für uns wesentlich lustvoll ist und so den zweiten kantischen Bestimmungsgrund erfüllt.

Titelbild

Andrea Kern: Schöne Lust.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
300 Seiten, 11,70 EUR.
ISBN-10: 3518290746

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