Mutation und Permutation

Semiotik in Schwarzweiß

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mathieu hat sich nach seiner wunderbaren Reihe um den Angestellten im Ministerium des Humors, Jacques Acquefacques, einmal mehr mit den Grenzen und Begrenzungen des Mediums Comic auseinander gesetzt. Der umtriebige Reprodukt-Verlag bringt gleich zwei seiner neuesten Kreationen auf den Markt: Zum einen das kleine Heftchen "Die Mutation". Auf 24 Seiten wird die Geschichte von Monsieur Albert erzählt, dem stellvertretenden Hauptkontrolleur der Hauptverwaltung für Ordnungsangelegenheiten. Im Verlauf der Geschichte lässt sein Gedächtnis nach und er wird immer weiter erniedrigt und gedemütigt.

Wieder dient Mathieu das Ministerium als Extrem der gesellschaftlichen Ordnung, als soziologischer Experimentierkasten; hier spiegeln sich Verhaltensformen und werden Auffälligkeiten radikal ausgegrenzt. Diese Extreme finden ihren adäquaten Ausdruck in den strengen Schwarzweiß-Zeichnungen.

Beinahe kafkaesk muten die Bemühungen M. Alberts an, sich gegen die Bestimmungen "von oben" zu widersetzen. Unterperspektiven und weite Raumfluchten beherrschen das Bild und schaffen Distanz. M. Albert wird dadurch in eine Kausalkette eingestellt: Er handelt nicht, sondern durch ihn geschieht Handlung. Die Destruktion des M. Albert findet ihren Ausdruck in den Negativen der Bilder, in denen zunehmend das Element der Leere an Bedeutung gewinnt. Mit dem Fortschreiten des Gedächtnisverlustes entvölkert sich die Welt des Beamten.

Der Autor stellt Text und Bild gleichwertig gegenüber. Das eine Element ist autonom gegenüber dem anderen; beide können als eigener Text gelesen werden. Damit bricht er mit herkömmlichen Erzählmodi des Comics, bei denen sich ein Text dem anderen unterordnen musste - sei es nun Schrift oder Bild. Ein gelungenes Experiment, mit dem Mathieu ein wichtiges Mosaiksteinchen zu seiner äußerst unterhaltsamen Reflexion des Mediums Comic beiträgt.

Der andere, umfangreichere Beitrag heißt "Tote Erinnerung". Der "mittlere Beamte" Firmin Houffe lebt in einer Welt, die von einer vollkommenen Mediatisierung geprägt ist: Jeder Mensch besitzt eine "Blackbox", die seine Erinnerungen zu speichern vermag. Doch es kommt zum Zusammenbruch des scheinbar reibungslos funktionierenden Systems - die individuelle Erinnerung weicht der kollektiven, die Menschen verlieren ihre Sprache. Nach der semiotischen Sequenzialität, deren Wiederholbarkeit, der Realitätsfrage und der Farbtheorie macht Mathieu seinen neuesten Theoriediskurs an der Sprache fest und führt konsequent fort, was in der "Mutation" angerissen wurde. Sei es das "Ornament der Masse", das sich materialisiert in der unendlichen Stadt, sei es die semiotische Struktur der Panelfolgen: Überall entdeckt der Leser Struktur, und damit Formen sprachlicher Äußerung.

Zielgerichtet leitet Mathieu das Auge des Lesers von Bild zu Bild und entwirft dabei eine neue Panelanordnung. In schmalen, aber seitenlangen Bildern, die Anfang und Ende des Bandes bilden, kommt die Struktur der Stadt zum Tragen.

Houffe spricht den Leser direkt an, mehr noch, er macht ihn zum Mitwisser, zum Teilhaber und Involvierten. Das System Stadt gibt seine lexikalische Struktur preis, indem überraschend Mauern zwischen einzelnen Stadtvierteln entstehen. Ein weiterer grotesker Aspekt ist die Uniformität der Gesellschaft. Alle Menschen sind gezeichnet von Falten und Runzeln, und trotz dieses Anti-Jugendlichkeitskonzeptes wirken sie verwechsel- und austauschbar.

Diese Kollektivität findet ihren Ausdruck auch in der Abhängigkeit der Stadtbewohner von den Medien: Plakatwände, Bildschirme allerorten und eben jene Blackbox handeln zwar durch Sprache, teilen sich aber nicht mit. Die Wahrnehmungsmuster stellen sich um: Nicht mehr der Mensch beherrscht die Sprache, sondern er wird von der Sprache - und von sprachlichen Strukturen - beherrscht.

Eine anonyme administrative Institution vereinnahmt die Menschen sowie ihre Erinnerungen und nimmt schließlich Gestalt an in einem Supercomputer. Und obwohl dieser am Schluss von Houffe ausgeschaltet werden kann, bilden die decodierten Worte der Maschine das Alpha und Omega des Comics. Ebenso unterhaltsam wie intelligent setzt sich Mathieu mit den sprachlichen Gestaltungsmöglichkeiten der neunten Kunst auseinander. Dank gebührt auch dem Verlag: ein guter Druck, eine fließende Übersetzung und kleine gestalterische Details, die dem Konzept des Autors Rechnung tragen, heben den Comic aus der Flut von Neuveröffentlichungen heraus.

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Marc-Antoine Mathieu: Die Mutation. Comic-Heft.
Herausgegeben von Claudia v. Jerusalem.
Übersetzt aus demFranzösischen von Martin Budde.
Reprodukt Verlag, Berlin 2000.
24 Seiten, 2,60 EUR.
ISBN-10: 3931377407

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Titelbild

Marc-Antoine Mathieu: Tote Erinnerung. Comic-Album. Herausgegeben von Claudia v. Jerusalem.
Übersetzt aus dem Französischen von Martin Budde.
Reprodukt Verlag, Berlin 2000.
64 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3931377342

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