Vom ewigen Frieden zur funktionalen Barbarei

Ein Sammelband zur Aufwertung des Krieges um 1800

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als Kant 1795 seine Schrift "Zum ewigen Frieden" vorlegte, befand Europa sich im Anfangsstadium eines Kriegszyklus, der bis zu Napoleons endgültiger Niederlage 1815 währen sollte. Kant sah eine republikanische Staatsverfassung als Voraussetzung für eine stabile Friedensordnung - eine, wie wir heute wissen, irrige Annahme. Vom Zeitalter des Kolonialismus an bis hin zum gegenwärtigen Interventionismus haben sich Republiken zwar nicht untereinander, doch gegen anders organisierte Staaten und Gesellschaften als besonders aggressiv sogar erwiesen. Allerdings konnte Kant bereits erkennen, dass "Demokratien", in seiner Begrifflichkeit nicht durch Gewaltenteilung kontrollierte Volksherrschaften, zum Krieg tendieren; die französischen Revolutionäre hatten ihm ein anschauliches Beispiel geliefert.

Deren Kriegs- und Gesellschaftsmodell, wenn auch politisch modifiziert, sollte sich als zukunftsträchtig erweisen. Bereits die preußischen Reformer nach der reichsdeutschen Niederlage von 1805/06 mussten für ihren Krieg Elemente der feindlichen Ideologie adaptieren - gleichgültig ob sie auf ein reformiertes Deutschland oder die Restauration des Alten setzten. Damit kam es zu einer Aufwertung und Enthegung des Krieges, die der aufklärerischen Zukunftserwartung einer steten Zivilisierung der Gesellschaft entgegengesetzt war. Diese Aufwertung und ihre ideologische Vorgeschichte ist das Thema des vorliegenden Bandes.

Die Herausgeber Johannes Kunisch und Herfried Münkler versammeln in ihm Beiträge, die auf einer Berliner Tagung zum bellizistischen Diskurs im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert vorgestellt wurden. Die Referenten sind durch Publikationen zu ihren jeweiligen Themen ausgewiesen; so liegt der Wert des Buches weniger in neuen Erkenntnissen als in der nützlichen Zusammenfassung des Forschungsstandes aus kompetenten Federn oder Tastaturen.

Räumlicher Schwerpunkt der Beiträge ist Deutschland; Matthias Bohlenders Aufsatz zum moralphilosophischen Streit um Bürgermilizen im Schottland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, Jürgen Heidekings Informationen zum Verhältnis von regulärer Armee und Bürgermilizen in den Vereinigten Staaten, Hans-Ulrich Thamers und Peter Parets Arbeiten zum revolutionären und nachrevolutionären Frankreich sind hilfreiche Ergänzungen. Zeitlicher Schwerpunkt ist die Konfliktphase zwischen 1789 und 1815. Weniges gilt der Zeit danach: neben Parets Geschichte der bildlichen Darstellungen des Krieges vor allem Wilfried von Bredows Bemerkungen zu Goethes berühmter Schilderung der Kanonade von Valmy. Sie gab ja Anlass zur berühmten Prophezeiung einer neuen Epoche der Weltgeschichte, die freilich 1820 niedergeschrieben nicht mehr ganz so kühn wirkt wie vielleicht 1792 ausgesprochen.

Mehr Raum ist der Zeit davor gewidmet. Rolf Sprandels anschauliches Referat zum Kriegsbild spätmittelalterlicher Hofchronisten beruht auf reicher Materialkenntnis, ist jedoch durch Jahrhunderte vom Rest der Themen getrennt. Näher am Schwerpunkt, neben den Aufsätzen über Schottland und die USA, sind Wilhelm Janssens Vorstellung der Kriegsapologie Johann Valentin Embsers (1778) und Johannes Kunischs Analyse von Wilhelm Friedrich Meyerns Roman "Dya na Sore" (1787 - 1791). Hier wird deutlich, dass der Wechsel von aufklärerischer Friedfertigkeit zu moderner Kriegsbegeisterung nicht erst durch die kriegerischen Erfahrungen nach 1789 erzwungen, sondern bereits zuvor dem bürgerlichen Moraldiskurs inhärent war.

Die Stereotypen, die seine Vertreter aktivieren, sind nicht neu; das Argument etwa, ein Krieg bedeute moralische Kräftigung und beuge der Erschlaffung eines Volkes vor, lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Funktion und Wirkungsweise der Propaganda für den Krieg sind indessen in der napoleonischen Ära bereits deutlich durch die Entstehung der modernen Nation gekennzeichnet: Über Massenmobilisierung entsteht die uns heute vertraute Demokratie als Kampfgemeinschaft. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. misstraute nicht zu Unrecht den Reformern, die seinen Thron retten wollten und erfolgreich retteten. Ihre Nationalideologie etablierte mit dem neuen Volksbegriff einen Maßstab, an dem zuletzt auch der Monarch sich messen lassen musste und sich 1918 als überflüssig erwies. Die gewollte oder ungewollte Abschaffung der Monarchie zugunsten der Nation stellte dann ernsthaft die aufklärerische Vorstellung in Frage, rationale Politik könnte die Menschheit in den Mittelpunkt stellen und den destruktiven Krieg einhegen.

Die Autoren des Sammelbandes umgehen derartige Perspektiven. Ihre historistische Sicht bringt dabei einen Zugewinn an Präzision. Die meisten der Autoren rekonstruieren akribisch den Verstehenshorizont der Personen, deren Texte sie analysieren; zu nennen ist hier besonders Andreas Herberg-Rothes Analyse der Wandlungen von Clausewitz' kriegspolitischen Überlegungen, ergänzt von den Aufsätzen Michael Sikoras zu Scharnhorst, Massimo Moris zu den deutschen Philosophen und Herfried Münklers speziell zu Fichte.

Eine wichtige Rolle bei der Umwertung des Krieges spielt die Literatur. Jean-Jacques Langendorf zeigt Rühle von Lilienstern als ästhetisierenden Theoretiker des Krieges; Peter J. Brenner analysiert Jean Pauls ambivalente Haltung zum Kämpfen, und Ernst Weber befasst sich in einem zwiespältigen Aufsatz mit Theodor Körners Kriegsdichtung; zwiespältig, weil bei aller instruktiven Sachkenntnis das ideologische Vorurteil, Befreiungskrieger müssten progressiv sein, die Wertung irritiert. Immerhin erkennt Weber an, dass Körner nicht ist, wie er sein sollte - zur Konsequenz, die ganze Bewegung mit Distanz zu sehen, gelangt er nicht.

Den Schlusspunkt des Bandes bildet ein Aufsatz Andreas Dörners über Kleists Kriegspropaganda besonders im "Hermannsschlacht"-Drama. Dörner zeigt, dass Kleist konsequenter als jeder andere Propagandist gegen Napoleon gemessen an den Werten des 18. Jahrhunderts einen Zivilisationsbruch, eine "funktionale Barbarei", forderte; er zeigt auch, dass noch über Jahrzehnte diese Konsequenz die kulturellen und politischen Eliten, die Kleists Adressaten waren, überforderte. Allmählich im Wilhelminismus, mehr noch dann im deutschen Faschismus konnte Kleists Logik der funktionalen Barbarei sich entfalten. Doch selbst in dessen Schlussphase relativierte (und effektivierte) die staatliche Struktur den potentiell anarchischen Impuls.

Man könnte Dörners Gedanken weiterführen: Vielleicht sind es erst die perspektivlosen völkischen Verelendungskriege nach 1990, die das radikale Nichts einlösen, das Kleists Hermann zu immer weiterer Expansion zwingt. Dieser Hermann wäre dann nicht der Präfaschist, um den die kleistfreudige Germanistik nach 1945 einen ängstlichen Bogen schlug, und auch nicht der Befreiungskämpfer, als den ihn Claus Peymann in der von Dörner anschaulich beschriebenen Bochumer Inszenierung des Dramas von 1982 auf die Bühne stellte. Hermann heute wäre Warlord im Kongo oder in den Trümmergebieten der einstigen sowjetischen oder jugoslawischen Zivilisation, er wäre Bandenchef in einer ostdeutschen Kleinstadt, kurz: wäre an einem Ort, wo kein Staat ist, sondern nur Bande oder nur Volk.

Vielleicht aber verweist auch diese Aktualisierung auf eine Offenheit von Texten, die sich wissenschaftlicher Klassifikation entzieht und so den solideren Historismus der meisten Autoren des Sammelbandes legitimiert. An der Situation um 1800 gerade durch ihre Besonderheit ist genug zu lernen; Kunischs und Münklers Sammelband bietet den geeigneten Zugriff.

Titelbild

Johannes Kunisch / Herfried Münkler: Die Wiedergeburt des Krieges aus dem Geist der Revolution.
Duncker & Humblot, Berlin 1999.
361 Seiten, 70,60 EUR.
ISBN-10: 3428095774
ISBN-13: 9783428095773

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