Sex und Macht im Süden

Jan Bürgers Roman "Verlängerte Reise"

Von Julia SchöllRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Schöll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peer kommt in die fremde Stadt, weil er Ina sucht, seine langjährige Freundin, die urplötzlich verschwand und erst Wochen später ein Lebenszeichen in Form einer Postkarte aus einer südlichen Metropole schickte. Esta und Niko, die zur gleichen Zeit in dieser Stadt sind, wollen nur Urlaub machen, sich amüsieren. Peer und Niko kennen sich von früher, sie waren Schulkameraden. In der Stadt jedoch werden sie sich nicht treffen, man läuft aneinander vorbei. Und auch Ina ist nicht zu finden. Doch jemand anderes erscheint, drängt sich fast auf, den Fremden die Stadt zu zeigen: Carl, ein ehemaliger Mediziner, der in schulmeisternden Monologen den Fremdenführer spielt, ist weder Peer noch Esta und Niko ganz geheuer, und doch lassen sie sich alle auf ihn ein. In ausgefeilten Sätzen ("Wie lange denkt er über so einen Satz nach, bevor er ihn ausspricht?") legt Carl den drei Besuchern neben den Sehenswürdigkeiten auch sein Weltbild auseinander, philosophiert über die Liebe und das Zusammenspiel von Sex und Macht: "Sex oder Macht, etwas anderes gibt es eigentlich nicht. Richtig aufregend wird es, wenn beides zusammenkommt. Wenn man den richtigen Schwanz in sich duldet, wird man auch was." Besonders gern spricht Carl über den Tod.

Jan Bürger legt in seinem Debütroman zwei Ebenen nebeneinander: Peer erzählt in der Ich-Form von seinem rastlosen Streifen durch die Stadt auf der Suche nach Ina. Von Niko und Esta erfahren wir durch einen anderen Erzähler, der uns von einer Beziehung berichtet, die mit den Jahren träger wurde und die nun mit erotischen Spielchen wieder aufgeheizt wird: Niko spricht in wechselnden Rollen fremde Frauen an, flirtet und versucht, ihr Interesse zu wecken, um dann im letzten Moment wieder abzuspringen. "Welcher Liebesbeweis ist größer, als sich im entscheidenden Moment der Versuchung zu widersetzen und die Partnerin dabei auch noch zusehen zu lassen?" Ein "Liebesbeweis" oder eine weitere Variante des Wechselspiels von Sex und Macht?

Mehrere, eher dünn gesponnene Fäden verbinden bei Bürger die beiden Erzählebenen: die sexuellen Fantasien, denen sich Peer in seiner Einsamkeit ebenso hingibt wie das Paar Esta und Niko, das sich gegenseitig von seinen geheimen Wünschen nichts erzählt; die unheimlichen Träume, die sowohl Esta als auch Peer heimsuchen und die in kafkaesker Verkleidung das Unheil vorwegnehmen, das am Ende geschehen wird; die ungenannte Stadt mit ihrem feucht-schwülen Klima, deren Identität wir nur aufgrund gestreuter Zeichen ( Plätze und Straßen, das Essen, ein Museum mit den Bildern des Barockmalers Johann Liss ( ahnen können; und der mysteriöse Carl, der sowohl die beiden Urlauber als auch den Suchenden in verwahrloste Stadtviertel führt, in Gegenden der Verwesung und der Fäulnis und in sein Heim auf einem ehemaligen Schlachthofgelände, in dessen Garten sich nicht nur graue Nachtschnecken, sondern auch Knochen finden. Ein Fremdenführer in die Unterwelt.

Jan Bürger, Jahrgang 1968, lebt als Autor und Kritiker in Hamburg und Berlin, wo er unter anderem in Sigrid Löfflers Literaturen-Redaktion sitzt. Wenn sein Roman auch an einigen Stellen holpert, so ist es ihm doch gelungen, eine fesselnde Story zu schreiben, die den Leser in ihren Bann zieht. Während man sich noch mit den Figuren über Carls nervende Monologe ärgert, ist man längst unbemerkt dem Sog der Geschichte erlegen, die unaufhaltsam auf ihr tödliches Ende zusteuert. Da dieses Ende keine Lösungen bereit hält, sondern dem Leser noch mehr Rätsel aufgibt, ist Bürgers Buch kein einfacher Krimi, sondern ein ausgetüfteltes Zeichensystem und ein raffiniertes wie anspielungsreiches Stück Literatur.

Titelbild

Jan Bürger: Verlängerte Reise.
Kowalke und Co. Verlag, Berlin 2000.
255 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3932191161

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