Selbstbezüglichkeiten

Sarah Kofman liest Derrida

Von Waldemar FrommRSS-Newsfeed neuer Artikel von Waldemar Fromm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Kunstwissenschaft befragt moderne Kunstwerke nicht mehr vorrangig nach dem, was in ihnen dargestellt wird oder was sie bedeuten, sondern danach, wie sie gemacht worden sind. Es gibt in diesem Zusammenhang auch den Fall, dass dargestellt wird, wie etwas gemacht worden ist. Es muss sich dabei nicht mehr um ein Kunstwerk, es kann sich auch um einen Essay oder einen philosophischen Text handeln. Eine solche Lektüre, die in der Vermittlung die Prämissen des Gelesenen voraussetzt, bietet die 1994 verstorbene Philosophin Sarah Kofman in ihrem Buch "Derrida lesen". Der Blick des Lesenden ist damit zweifach gerichtet: auf die Frage, wie die Texte Derridas gemacht sind und wie Kofman ihren Lektüretext herstellt.

In Kofmans Ansatz wird die Frage nach der Lesbarkeit von Derridas Texten zur Leitfrage der Lektüre insgesamt. Entlang der Frage, ob Derrida überhaupt gelesen werden kann, entwickelt sie Derridas Denk- oder Textbewegungen. "Die Stimme und das Phänomen" gilt ihr als wichtigster 'Referenztext'. Der erste Teil gibt einen Abriss der wichtigsten Begriffe bzw. Denkbewegungen Derridas. Kofman eröffnet ihre Untersuchung mit der Darstellung eines grundlegenden Problems jeder Derrida-Lektüre: dem "sprengenden Einbruch der Schrift". Damit ist zugleich gesagt, dass auf die Schriften Derridas die Thesen der Texte angewendet werden sollen: Jede Lektüre ist "Noch-einmal-Schreiben, Supplementarität [...]. Wer sich zurückhält, etwas von sich selbst einzubringen, wer sich verweigert, den Text zu befruchten, zu beackern, der liest nicht", so Kofman. Dieser Methode gemäß 'verliest' sich Kofman an den Texten Derridas mit Absicht. Sie blendet einzelne Aspekte aus oder vernachlässigt sie und hebt andere (detailliert und überzeugend) hervor. Kofman vollzieht die Lektüre als Pfropfung eines Textes auf einen anderen und liest Derridas Texte mit Freuds Schriften. Ein weiterer wichtiger Kunstgriff neben der Pfropfung ist das Zitat, um das herum und in Verknüpfung mit den eigenen Gedanken ein neuer Text entsteht. Kofman zitiert in der Regel wörtlich, sie fasst mit den Zitaten zusammen, vermittelt einen Ausblick oder führt in ein Thema ein. Im längsten Kapitel, "Graphematik und Psychoanalyse", treten Kofmans Lektüreabsichten am deutlichsten hervor. Sie transformiert mit Derrida die Freudsche Konzeption des Unbewussten, indem sie darin die Bedingungen der différance aufdeckt.

Der letzte Teil des Buches reagiert auf die Ethik-Debatte um die dekonstruktiven Ansätze. Kofman kehrt hier die Pfropfung um: nun liest sie nicht mehr Derrida durch eine Pfropfung von Texten Freuds, sondern umgekehrt Freud mit Derridas Analyse der sexuellen Differenzen bei Freud. Die Autorin stellt fest, dass der anthropologische Diskurs seit der Aufklärung "phallogozentrische Absichten" verfolge, wie man nicht zuletzt an den Schriften Freuds erkennen könne. Kofman bietet in diesem Teil eine mustergültige Analyse der phallogozentrischen Ziele, man könnte auch sagen: der Luftschlösser männlicher Dominanzphantasien. Sie zeigt die zirkulären Argumentationen, fixen Ideen und schließlich die Akzeptanzhaltung Freuds gegenüber konventionellen Vorstellungen, auch wenn er deren Unhaltbarkeit längst eingesehen hat. Schließlich behandelt Kofman auch Derridas "fetischistisches Schwanken", das eine eigenständige Haltung gegenüber der Unentscheidbarkeit von Wahrheitsaussagen enthält. Das Objekt des Fetischisten ist auf eine geradezu natürliche Art sekundär und deshalb als Modell besonders gut für alle Supplementarität geeignet. Die Entgrenzung des Fetischs sei eine passende Reaktion auf die Unentscheidbarkeit. Der Fetisch wird dann zum Mittel der Metaphysikkritik.

Als Einführung in das Denken Derridas ist das Buch Kofmans kaum geeignet. Interessant ist es aber nach wie vor für alle, die sich mit dem Zusammenhang von Dekonstruktion und Psychoanalyse beschäftigen. Dieser Sachverhalt lässt sich zugleich kritisch gegen das Buch wenden, sofern er zumindest dem Titel nach eine Reduktion Derridas auf psychoanalytische Kategorien impliziert, die die Autorin auch auf die Kritiker der Dekonstruktion anwendet. Nicht jeder Kritiker sieht sich aber mit Urängsten konfrontiert, wenn er Derrida liest. Die einzig beschriebene Reaktion der "Angst" lässt vermuten, dass das Buch noch zu sehr aus einer 'Kalten-Kriegs-Rhetorik' heraus produziert worden ist. Die Dekonstruktion aber handelt von Abrüstungen und Entmächtigungen, die nicht notwendigerweise Angst erzeugen. Wichtig ist das Buch schließlich für alle, die sich fragen, wie eine Dekonstruktion der Dekonstruktion verfahren soll. Kofman hat dazu einen ersten Vorschlag unterbreitet.

Titelbild

Sarah Kofmann: Derrida lesen.
Passagen Verlag, Wien 2000.
216 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3851654498

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