Gliederschwere und Atemnot

Monique Köpke beteiligt ihre Leserinnen und Leser an der schmerzhaften Arbeit des Erinnerns

Von Hiltrud HäntzschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hiltrud Häntzschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heute ist Monique Köpke 75 Jahre alt, hat als Sprachlehrerin und in künstlerischen Berufen gearbeitet und hat zusammen mit ihrem Mann, dem deutschen Literaturwissenschaftler Wulf Köpke in den USA die große Familie mit fünf Kindern und einer wachsenden Enkelzahl wieder gegründet, die ihr die Nazis einst vollständig zerschlagen haben.

Die Rede von der Erinnerungsarbeit geht gelegentlich sehr leicht von den Lippen. Selten ist sie so zutreffend wie hier: Schachteln und Umschläge voller Briefe und Karten, unleserliche Zeilen, Photos aus zwölf heillosen Jahren sind der Schatz und die bedrückende Hypothek, die von einer weit verzweigten Familie am Ende des rassistischen Zerstörungswerks geblieben sind, und ein verlorenes - gerettetes 20-jähriges Mädchen. Im Alter macht sie sich an die Arbeit, setzt ihre Kindheit zusammen wie einen zersprungenen Spiegel. Zahllose Lücken lassen blinde Stellen übrig, und wo die Scherben am schwärzesten sind, etwa in den erhaltenen Berichten an Dritte über den letzten Besuch der 17-jährigen Tochter bei der hoffnungslosen Mutter im Internierungslager Gurs, da glänzen sie plötzlich auf. Es ist die Geschichte eines aus der eigenen Welt gefallenen Kindes, mit lauter Teenagerproblemen zugleich, die Geschichte eines Erwachsenwerdens mit einem unharmonischen intellektuellen Elternpaar, dessen beide Partner um ihr Leben und um ihr schöpferisches Werk kämpfen bis zur letzten Minute vor der Deportation und doch darum betrogen werden. Wie soll sie mit der lebenslangen Verstörung fertig werden, die der letzte Brief des Vaters aus dem Internierungscamp in ihr auslöste, als er über das Schicksal seiner vereinsamten, in Kinderheimen herumgeschobenen Tochter ein paar belanglose Sätze übrig hatte und sie mit aufwendigen Forschungen und Bücherwünschen zu kunsthistorischen Fragen nach irgendwelchen Kirchenbauten überforderte? Was habe ich damals gefühlt, warum ließ man mich in diesem Moment im Stich, was ging in der unglücklichen Mutter vor und wann gab es doch Spuren von Glück? Welche Bedeutung hatten die der Not, dem miserablen Farbband, der Lichtlosigkeit abgerungenen Briefe und Briefabschriften für die zwischen Deutschland, Frankreich, der Schweiz und Palästina zerrissenen Familie? Die bedrückendste Frage muss die Emigrantin unbeantwortet durch ihr Leben tragen: "Haben sich meine Eltern [die in verschiedenen Camps interniert waren und beide mit dem ersten Transport über Drancy nach Auschwitz deportiert wurden] in Drancy getroffen, war der letzte ,Transport', durch Frankreich, Deutschland und Polen, den ich nicht die Kraft habe, mir vorzustellen, war er vielleicht in einem Wagen, zusammen, vielleicht mit einem Gespräch - selbst wenn sie nicht wußten, daß es das letzte sein mußte?" Das Mädchen selbst konnte damals vor der Deportation in die Schweiz flüchten.

Das zersprungene, löcherige Bild spiegelt am Ende wie wenige Exilberichte den Horror vor der Hässlichkeit der Armut, die Anstrengungen der Selbstbehauptung bei unerträglicher Abwesenheit jeglicher Freude. "Diese Briefe [der Mutter] und andere liegen seit so vielen Jahren lastend in meinem Innern, machen mir die Glieder schwer, stören mich beim Ein- und Ausatmen. Indem ich sie hier ans Licht befördere, die dunklen Gestalten sozusagen dem Leser mit anvertraue, können wir die Last gemeinsam tragen." Es ist das gute Recht der Autorin, den Leser an dieser schmerzhaften Arbeit zu beteiligen, auf Umwege, in Tunnels, zu Nebenfiguren mitzunehmen, die kleinsten Schnipsel der Erinnerung mit auf,lesen' zu lassen.

Titelbild

Monique Köpke: Nachtzug nach Paris. Ein jüdisches Mädchen überlebt Hitlers Frankreich.
Altius Verlag, Erkelenz 2000.
416 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3932483103

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