Stimulieren - Sättigen - Genießen

Helene Karmasin untersucht das ABC des Essens

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Kern ist eine Mahlzeit ein sozialer Akt, der einem sozialen Ereignis entsprechen muß. Die Anthropologin Mary Douglas bringt alle unsere Speisen auf eine Grundformel: A + 2b. Ein Menu besteht demzufolge aus einem Hauptgericht (A) und zwei Nebengerichten (2b), etwa Vorspeise und Nachspeise oder Kaffee. Ebenso besteht ein Hauptgericht aus den Komponenten A + 2b, ein Stück Fleisch etwa und zwei "Sättigungsbeilagen", Kartoffeln und Salat. Ganz ähnlich ist die Nachspeise konstruiert: Ein Eis mit heißer Himbeersauce und einer Waffel oder einem Sahnehäubchen. Der Fantasie sind hier keine Grenzen gesetzt. Jede Mahlzeit beschreibt somit einen Zyklus oder eine Reihe: "Stimulieren - sättigen - genießen". Fehlt eine wichtige Komponente, zum Beispiel das Fleisch, so macht sich der Gast Gedanken, selbst wenn er nicht auf Fleisch abonniert ist und gern auch mal ohne auskommt. "Sind die so arm dran, daß sie kein ordentliches Stück Fleisch auf den Tisch bringen, oder bin ich denen so wenig wert, daß sie diese Ausgabe scheuen?"

Helene Karmasin hat für ihr Buch über "Die geheime Botschaft unserer Speisen" eine Form gewählt, die nur wenige beherrschen: Eine rundum wache, intelligente, mustergültig klare, sehr gut lesbare, über weite Strecken amüsante und immer lehrreiche Darstellungsform, die nichts mit Dunkelmännerei zu tun hat, wie der Titel ("geheime Botschaft") vielleicht nahelegen könnte, sondern Aufklärung im besten Sinne betreibt. Ein Buch, das - um ein Klischee zu bedienen - der lesenden Hausfrau ebenso Spaß machen dürfte wie einem Claude Lévi-Strauss. Helene Karmasin leitet seit bald dreißig Jahren ein Institut für Motivforschung in Wien, sie beschäftigt sich vornehmlich mit Fragen der Werbung, des Marketings und besonders des Product Placements, des sozialen Umgangs und der Bedeutung unserer Umgangsformen, der kulturellen Relevanz des Essens und seiner "Verpackung". Sie analysiert für Großkunden wie Mercedes, Knorr und Nestlé, neue Produkte und Werbestrategien, sie führt empirische Untersuchungen mit potentiellen Käuferschichten durch und berät Kunden bei der optimalen Erschließung des Marktes. Sie verwendet Methoden und Ergebnisse der Semiotik, der Anthropologie, Soziologie und Psychologie, und sie setzt deren Erkenntnisse denkbar zweckmäßig und ökonomisch ein. Man liest ihr Buch mit kopfnickender Begeisterung, weil sie auch dem scheinbar Selbstverständlichen eine solide argumentative Basis zu geben vermag. Ihr Buch folgt einem klar gespannten roten Faden geduldsamer Ausdifferenzierung: So, wie die Geschichte der bloßen Nahrungsaufnahme und Sättigung in eine Geschichte des Essens, Dinierens und Speisens mündet, so zeigt auch Karmasin, wie sich die Unterschiede in den diversen Eßkulturen immer weiter ausdifferenziert haben. Als Höhepunkt der Hochküche beschreibt und analysiert sie ein Silvestermenu des Luxusrestaurants Obauer (nahe Salzburg), das zum Raffiniertesten gehören dürften, was die europäische Küche derzeit zu bieten hat.

Helene Karmasins Buch ist reich an Beispielen, erschöpft sich aber nicht in ihnen. Es enthält auch nicht etwa Kochrezepte, sondern beschreibt Typen von Speisen, Getränken oder Lokalen, die zu verschiedenen Formen unserer Eßkultur in Beziehung gesetzt werden. Zur Charakterisierung einer solchen Kultur ist das Verhältnis von Gruppe und Individuum aufschlußreich, die Frage also, inwieweit die Gesellschaft oder der Einzelne die Spielregeln des Verhaltens bestimmen. Im Trend liegt heute eindeutig die "individualistische Kultur", in der der Einzelne großes Gewicht hat und in der Regelungen abgebaut werden; gleichzeitig gibt es einen Trend nach "Halt" und "Geborgenheit" und eine Sehnsucht nach den "guten Werten" der Tradition. Einem solchen Bedürfnisgemisch entspricht "Sweety Kaiserschmarrn" von Knorr. Die Zubereitungszeit: sieben Minuten in der Pfanne. Die Losung: "Nur noch Wasser dazu - im Handumdrehen fertig. Zwei köstliche Portionen in drei Sorten." Das Gericht verspricht weder Gesundheit noch Schlankheit, sondern raschen Genuß aus der tradierten regionalen Küche, den Bedürfnissen der modernen Frau (bzw. des modernen Mannes) gemäß: Eine richtige Mahlzeit, wie von Muttern, und das innerhalb kürzester Zeit.

Karmasins Buch will kein moderner "Knigge" sein, sondern eine wissenschaftlich fundierte und verantwortungsbewußte Analyse unserer Eßkultur. Dies ist gerade in jenen sensiblen Bereichen notwendig und auffällig, wo sich Gruppenerwartung und Marktstrategie ganz selbstverständliche, kaum mehr hinterfragbare "Glaubensartikel" geschaffen haben: Die Annahme zum Beispiel, daß Produkte aus biologischem Anbau naturnäher und daher gesünder seien, oder die Vorstellung (von Hilary Clinton in ihrem Buch "It Takes A Village" als Ideal beschrieben), daß nur die überschaubare (Dorf-)Gemeinschaft eine Kultur der Geborgenheit, der inneren Werte und des optimalen Zusammenlebens garantieren könne.

Helene Karmasin weist uns darauf hin, daß es sich hier um Zuschreibungen handelt, die zwar von der überwiegenden Masse der Verbraucher geglaubt werden, deshalb aber noch nicht wahr sein müssen, indem sie aufzeigt daß jede Gesellschaft mit dem Begriff der "Natur" andere Vorstellungen verbindet, daß jeder gute Marktstratege diese Vorstellungen entsprechend zu bedienen weiß: Die Werbung suggeriere Naturnähe "auf der Ebene der Zeichen", aber die Erfahrung zeige, daß der Verbraucher in vielen Fällen getäuscht werde. Anhand unserer Nahrungsmittel, so Karmasin weiterführend, werde die generelle Frage thematisiert, wem wir in unserer Gesellschaft trauen könnten, und die Anhänger der Idee des Kommunitarismus glaubten, daß nur im überschaubaren regionalen Raum Kontrolle, Vertrauen, quasi authentische Teilhabe an Produktion und Verbrauch möglich sei. Kulturphilosophen, die solche Ideale beschreiben und propagieren, vergessen gern, die Nachteile zu erwähnen, die potentielle Rückwärtsgewandtheit dieser Gesellschaften, ihr ubiquitäres Prinzip der Kontrolle, die Beengtheit, Unfreiheit und Rückständigkeit, die dieser Welt droht.

In diesem Buch wird also sehr umfassend deutlich, wie sich Gesellschaften über Essen und Trinken definieren, wie sie den Wandel ihrer Wertesysteme transportieren (etwa durch Werbung und Verpackung) und woran sich der soziale Umbau unserer Kultur auch noch ablesen läßt: etwa in der Produktpalette eines Supermarktes. Es ist ein Buch mit der Aussicht, ein Standardwerk zu werden: als Bett- und Küchenlektüre ebenso wie im Marketingbereich und im universitären Raum.

Titelbild

Helene Karmasin: Die geheime Botschaft unserer Speisen. Was Essen über uns aussagt.
Verlag Antje Kunstmann, München 1999.
300 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3888972159

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch