Der Untergeher

Jan Koneffkes faszinierender Roman "Paul Schatz im Uhrenkasten"

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Zeitalter digitaler Uhren hat einen Nachteil: Wer darin aufwächst, dürfte kaum jene prägende Erfahrung machen, die sich durch das Verstellen eines Uhrzeigers eröffnet. Man dreht und dreht und erwartet als einigermaßen logisch denkendes Kind, dass sich Gewaltiges ändern möge - die Dinge also entweder wie im falsch herum abgespielten Film rückwärts laufen oder die Zeit einfach zurück- oder vorgedreht wird und an anderer Stelle wieder einsetzt. Wenn sich all diese Effekte nicht einstellen, muss man mit einer fundamentalen Ernüchterung leben lernen oder ganz wilde philosophische Gedanken zu denken beginnen. Dass Uhren etwas so Abstraktes wie die ablaufende Zeit nur repräsentieren, erfährt man allerdings noch früh genug. So oder so: Zeit und deren Unwiederbringlichkeit bestimmt unser Denken bis in die Abgründe der Popkultur hinein. "If I Could Turn Back Time", sehnte sich Cher vor ein paar Jahren auf ziemlich pathetische Weise. Sie hätte bei Erich Kästner den neusachlichen Hinweis finden können, aus dem der aufklärerische Zeigefinger ragt: "Ihr wollt die Uhrenzeiger rückwärtsdrehen / und glaubt, das ändere der Zeiten Lauf". Nein, natürlich glauben wir das nicht (mehr).

Nun gibt es aber die Literatur, in der alles seinen eigenen zeitlichen Gesetzen folgt. Und seit diesem Herbst gibt es eine der eigentümlichsten Gestalten, die in den letzten Jahren Literatur geworden ist: Paul Schatz. Anders als es der Titel von Jan Koneffkes Roman verspricht, sitzt Paul nicht wie das Grimmsche Geißlein allen Ernstes im Uhrenkasten. Bildlich gesprochen aber schon: Seine Welt wird ihm zum Uhrenkasten, eine Art Luftblase, in der er überleben und sich das Durcheinander so zusammenfantasieren kann, dass es erträglich wird. Die Zeiten nämlich sind nicht zum Besten bestellt: Paul Schatz ist der Sohn des "schimmligen Schildermalers" und Juden Joseph Schatz und der sensiblen, nicht-jüdischen Eva Haueisen, die stirbt, als Paul sechs ist. Er wächst deshalb bei seiner strengen Tante Else und seinem noch strengeren Großvater Karl Haueisen mitten im Berliner Scheunenviertel auf. Aber auch der Großvater stirbt ihm weg - genau an dem Tag, als Hindenburg Hitler zum Reichskanzler ernennt. Um Paul herum geht alles seinen nationalsozialistischen (Unter-)Gang.

Großvater Haueisen, Logenmeister, Antisemit und ehemaliger Rechnungsrat im Reichspostministerium, ist aber nicht wirklich tot, weiß Paul. Er hockt unter der Erde "in seiner schalldichten Kammer mit Pritsche und Hollerithmaschinen, die Lochstreifen ausspuckten, Meßskalen und bebenden Zeigern in schwarzem und rotem Bereich". Paul vertraut seinem Großvater. Zweifel an dieser überhöhten Figur kommen erst später. Viel später kommt dann der tiefe Hass: Paul erfährt davon, dass Karl Haueisen die Schuld am Tod seiner Mutter trägt. Noch aber ist der Großvater mit allen Insignien des Höheren ausgestattet. Ihn ziert ein Lieber-Gott-Bart, er erscheint nicht gütig, aber gerecht, und er hat die Macht, Eiskappen schmelzen und Vulkane ausbrechen zu lassen. Wird es brenzlig, verstellt er einfach seine zweihundertdreißig Uhren, um den Enkel vor Schlimmerem zu bewahren. Wenn Großvater Haueisen sich an den Zeigern zu schaffen macht, drängt sich plötzlich jenes wummernde Hintergrundgeräusch des Buches in den Vordergrund, etwas Unheimliches, das von Anfang an in seinen märchenhaften Sätzen steckt: "Es wagten sich keine SA-Leute ins Scheunenviertel, um Steine in Mosche Sternkukkers Buchladen zu werfen. Und es kam zu keiner Razzia, bei der man einen Haufen Menschen im Grenadierstraßenhof zusammentrieb und beschimpfte und ruppig anfaßte. Und niemand pinselte weiß an Pufeles Eierladen: 'Kauft nicht beim Juden.'"

Natürlich geschieht all das. Koneffke weiß, dass jedes effekthascherische Erzählen über den Schrecken sich mit diesem in gewisser Weise gemein macht. Sein Text funktioniert anders: er braucht oft nur ein paar Randbemerkungen, eine kleine Verneinung, und die ganze Stimmung kippt. An unspektakulären Sätzen lässt sich die anrückende Katastrophe ablesen: "Heimlich reden! Bloß nicht auffallen! Haueisens Scheunenviertel kroch zusammen, machte sich klein." Ein paar Seiten später ist das Scheunenviertel ein "niedriges, enges, armseliges", und schließlich verschwinden die Mosche Sternkukkers und Pufeles, an die sich Paul mit seinen Kinderfragen gewandt und von denen er Rat erhalten hat: "Es leerte sich, Haueisens Scheunenviertel." So werden die idyllisierten Momente in der Erinnerung des Paul Schatz von der Wirklichkeit durchkreuzt.

Der junge Paul würde sich am liebsten verkriechen, ein "kleiner Herr Niemand" werden, unauffällig sein: er duckt und verstellt sich, weil er nicht fliehen kann. Er scheint wie in einem Magnetfeld auf der Erde gefangen zu sein. Einen Pol bildet die Mutter, die als Stern am Himmel haust und nachts mit dem Fernrohr zu beobachten ist. Der andere Pol ist Großvater Haueisen, der unter der Erde die Weltläufe dreht und wendet, wie es ihm passt. Die Mutter ist ein entrückter Engel, der Großvater ein gefürchteter Gott. Und Paul Schatz sitzt bewusstlos mittendrin. Die Dinge geschehen ihm. Um ihn vor den Deportationen zu schützen, wird er zu seinem resoluten, humanistisch gebildeten und durchaus sympathischen Großonkel Max Haueisen geschickt, der Bibliothekar in Quedlinburg ist und unverhohlen auf die Nazis schimpft. Quedlinburg ist auch der Ort, an dem Paul bis zu seinem Lebensende bleiben wird. Man erfährt das auf Seite 153: Koneffke holt aus seiner erzählerischen Schatzkiste einen Ich-Erzähler, Pauls Großneffen, der ihn zusammen mit seinem Vater in Quedlinburg besuchen fährt. Zum ersten Mal 1968, zum letzten Mal zur Beerdigung von Paul im Jahr 1999. Dem kleinen Jungen, der der Ich-Erzähler 1968 ist, vertraut der kindlich gebliebene Paul Schatz seine Lebensgeschichte an.

Jan Koneffke, der 1960 geboren wurde, als Kulturkorrespondent in Rom lebt und sich neun Jahre für sein viertes Buch Zeit gelassen hat, durchstreift fast das gesamte Jahrhundert: Weimarer Republik, Drittes Reich (worauf der Schwerpunkt liegt), DDR, der komisch bieder wirkende 68er Aufbruch in der BRD bis zum wiedervereinigten Deutschland. Das könnte in eine resümeehaft-moralisierende Besinnungsprosa münden. Nicht so bei Koneffke. Zu verdanken ist dies nicht allein einer fast ins Kunsthandwerkliche gehenden Detailverliebtheit, sondern der am eindringlichsten konturierten Figur: dem schelmenhaft-naiven, begabten und liebenswerten, schlauen und sich dumm stellenden Paul Schatz. "Bewahre und bewache deinen Traum! Sonst vergeht er, zerfließt zu Schaum oder wird verachtet und zertreten." Wenn sich Paul etwas zu Herzen nimmt, dann diesen Rat seines väterlichen Freundes Mosche Sternkukker (nicht der einzige bildhaft-schillernde Name in diesem sehr farbigen Buch). Der Satz begleitet Paul sein gesamtes weiteres Leben - auch wenn es oft nicht leicht fällt, an den Träumen festzuhalten, etwa dem, ein großer Pianist zu werden.

Die Genauigkeit und Stimmigkeit des Romans erweist sich aber auch am Bild des Uhren verstellenden Großvaters. Dieses erlaubt Koneffke auf einleuchtende Weise zwischen kleinen Episoden hin- und herzuspringen und diese doch exakt miteinander verzahnt erscheinen zu lassen. Die Handlung lässt sich nicht auf ein chronologisches Nacheinander ein, weil sich die Erinnerung von Paul auf die erdachte Welterzählung des Großvaters eingeschwungen hat. Die Fantasie, die in Betrieb gehalten wird durch das Verwirrende, das um ihn herum geschieht; das Ungeheuerliche, das er noch nicht recht verstehen kann, aber doch irgendwie verstehen muss; die Anachronien, die in Pauls Kopf entstehen - all das bildet sich dann auch im Text ab. Die Linearität wird durch erzählerische Sprünge aufgehoben, es geht quer durch Gefühlsschichten und Zeitebenen, was die außergewöhnliche und auch komische Biographie umso lebendiger macht. Koneffke lässt seine Hauptfigur an die Welt schaffende Kraft der Worte und die Wahrheit der Poesie glauben. Und gleichzeitig ist das Dunkle in diesem Glauben, die zerstörerische Kehrseite, die das Erzählen und Fantasieren antreibt, immer spürbar. "Man muß aus seinem Leben eine Geschichte machen, um bei Verstand zu bleiben, ja, am Ende, wenn es eine erstklassige Geschichte ist, meint man, sie sei einem anderen passiert. Armer Kerl, sagt man sich, oder, was ist der meschugge! und lacht sich krumm und schief, verstehst du?"

Titelbild

Jan Koneffke: Paul Schatz im Uhrenkasten.
DuMont Buchverlag, Köln 2000.
260 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3770152190

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