Zwischen vormodernem Schreiben und postmoderner Lektüre

Ein Lesebuch zur Wiederentdeckung von Alexander Lernet-Holenia (1897 - 1976)

Von Bernd HamacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Hamacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn der 100. Geburtstag eines einstmals renommierten Autors begangen wird, so nimmt es einigermaßen Wunder, dass es schon einer veritablen Wiederentdeckung bedarf, um sein Werk wieder ins Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit zu heben. Wie konnte also Alexander Lernet-Holenia, vormals österreichischer P.E.N.-Präsident, Träger des Kleist-Preises sowie deutscher und österreichischer Staatspreise, derart in Vergessenheit geraten, dass selbst der Herausgeber der Anthologie, die im Gefolge der Hundertjahrfeier zur Wieder- oder Neuentdeckung einladen möchte, die Lebenszeit seines Autors im Vorwort um vier Jahre verkürzt und ihn schon 1972 statt 1976 zu Grabe tragen lässt? Nun, im Essay, der den Band abschließt, nennt Thomas Eicher nicht nur die richtige Jahreszahl, er klärt auch über die Gründe des Vergessens auf, das unter anderem deshalb so erfolgreich war, weil es mit einem fundamentalen Paradigmenwechsel in der österreichischen Literatur einherging. Lernet-Holenia war spätestens seit den sechziger Jahren die Antifigur der österreichischen Avantgarde - politisch und künstlerisch ein Mann von vorgestern, der gleichwohl seinen Platz als Provokateur zwischen allen Stühlen suchte und fand.

Schlechte Aussichten also, so sollte man denken, für seine Wiederbelebung ausgerechnet im Rahmen eines hochschuldidaktischen Projekts, und dazu noch außerhalb Österreichs. Und doch wählte Thomas Eicher gerade Lernet-Holenia als Gegenstand eines Seminars im Rahmen des Projektes "Lese(r)förderung an der Hochschule" an der Universität Dortmund. Die Anthologie ist mithin Ergebnis studentischer Forschung und damit über den Gegenstand hinaus auch von grundsätzlichem Interesse als Dokumentation der Leistungsfähigkeit des literaturwissenschaftlichen Projektstudiums. Der Band besteht neben dem kontextualisierenden Nachwort des Herausgebers aus zwei, im Wesentlichen von den Studierenden gestalteten Teilen: dem "Lesebuch" mit Auszügen aus Romanen Lernets sowie einer "Nachgeholten Kritik", eine Anspielung auf ein von Lernet selbst virtuos gepflegtes Genre, von dem man gerne ein originales Beispiel gelesen hätte. Dass die Textauswahl auf die Romane beschränkt bleibt, macht sie ambitioniert und angreifbar zugleich, hält doch das umfangreiche und heterogene Werk Lernet-Holenias genügend attraktive Texte verschiedener epischer Kleinformen bereit, die in voller Länge hätten abgedruckt werden können. Dem aus der Entscheidung für Romanausschnitte erwachsenden erhöhten Begründungsdruck könnte die Auswahl nur dann standhalten, wenn es tatsächlich gelänge, "Neugier zu wecken und Anreize für eine weitergehende Lektüre zu schaffen".

In der Tat scheint es aber fraglich, ob die 'nachgeholten' Kritikerinnen und Kritiker überhaupt diese Intention des Herausgebers teilen. Mal wird die politische Einstellung des Autors kritisiert, mal sein Machismus, triefender "Kitsch und Schmalz" sowie öde Durststrecken der Lektüre werden konstatiert, was immer wieder auf die Empfehlung hinausläuft: "Da bleibt eigentlich nur eine Chance: schnell weiterblättern!" Selbst der Herausgeber spricht von einer "Verhinderungsstrategie", einer "Form von Geschwätzigkeit, mit der so manche Pointe 'toterzählt' wird". Falls dies eine kritische Methode sein sollte, um die ausgewählten erzählerischen "Highlights" umso mehr hervorzuheben, so dürfte doch zweifelhaft sein, ob tatsächlich noch jemand einen dergestalt von Warntafeln umstellten Roman als Ganzes zur Hand nehmen möchte.

Auch wenn sich durchaus Kritiken in dem Band finden (vor allem von Almuth Stiefel), die von fundierter und differenzierter Auseinandersetzung zeugen, empfehle ich daher, die kritischen Wertungen des Bandes versuchsweise gegen den Strich zu lesen - vielleicht lädt Lernet-Holenia dann doch noch zur Wiederentdeckung ein. Von solch bemühten und missglückten Texten wie einem fiktiven Brief an Lernet-Holenia, in dem der Kritiker ihm den Inhalt von dessen eigenem Roman "Mars im Widder" erzählt, sollte man sich dabei nicht irritieren lassen. Wenn aber psychologisch glaubwürdige Figurencharakterisierung vermisst oder die Mischung unzureichend integrierter, heterogener Handlungskomponenten moniert wird, so ließe sich das auch umpolen zur positiven Beschreibung eines gar nicht so gestrigen Erzählens, das der allzu eindimensionalen narrativen Norm, die den 'nachgeholten' Kritiken häufig zugrunde liegt, gerade nicht folgt. In diesem Sinne hat etwa Robert von Dassanowsky Lernet zum "postmodernen Autor" erklärt - eine These, die Eicher aufgrund der "ewig vormodernen Geisteshaltungen, die seine Texte dominieren", ablehnt. Wenn man jedoch statt nach den Geistes- nach den Erzählhaltungen fragen würde, so könnte es sein, dass sich Vormoderne und Postmoderne in ganz ähnlicher Weise die Hand geben wie schon in vergleichbar gelagerten Fällen, etwa bei Adalbert Stifter, dessen Faszination erst dekonstruktivistische Lektüren neu erschlossen haben. Nimmt man einmal eine solche Perspektive ein, so werden auch Lernets ständige Provokationen, Beschimpfungen und Beleidigungen, sein ganzes zu fortwährendem Kopfschütteln reizendes öffentliches Auftreten geradezu als Performance lesbar: eine biographische Inszenierung als Gesamtkunstwerk.

Daher möchte ich zur Wiederentdeckung des Erzählers Lernet-Holenia auf eine Episode hinweisen, die, indem von der Verhinderung des Erzählens erzählt wird, einen ironischen selbstreflexiven Kommentar zu Lernets Werk als Ganzem abgibt: In einer Binnenerzählung des Romans "Die Auferstehung des Maltravers" wird der Jägermeister Baron Hafferberg vom russischen Zaren aufgefordert, eine Geschichte zu erzählen. Da ihm nichts einfällt, ist er bei den dramatischen Handlungen um die Ermordung der Zarenfamilie, als niemand mehr an Geschichten denkt, damit beschäftigt, sich eine auszudenken. Endlich hat er, nach den tödlichen Schüssen auf die kaiserliche Familie, seinen Einfall, doch da werden er und die noch verbliebenen Zuhörer ebenfalls zur Erschießung abgeholt: "So hat niemand Hafferbergs Geschichte, die er sich so mühsam ausgedacht hatte, je erfahren."

Schade wäre es, wenn niemand mehr erführe, wie hintergründig Lernet-Holenia mit konventionellen Leseerwartungen spielt, die er nur scheinbar naiv bedient. Bei Lernet ist viel zu lernen, und deshalb kann die Anthologie auch mit Gewinn in den didaktischen Kontext zurückgeführt werden, aus dem sie entstanden ist. Mit der "Nachgeholten Kritik" wird dabei ein aufschlussreicher Einblick in die literaturkritischen Standards heutiger Studierender geboten.

Zusätzlichen wissenschaftlichen Wert erhält der Band durch eine 30 Seiten umfassende Auswahlbibliographie mit Sekundärliteratur zu Lernet-Holenia - von Monographien über Aufsätze und Zeitungsartikel bis zu Rezensionen einzelner Werke -, die als rtf-Datei gegen Einsendung einer beiliegenden Karte kostenlos vom Verlag erhältlich ist. Noch in diesem Jahr soll im selben Verlag eine umfassende Lernet-Holenia-Bibliographie erscheinen. Gleichwohl ist zu erwarten, dass der Autor auch weiterhin am Rande des literaturwissenschaftlichen Kanons verbleiben wird. Aber an den Rändern ist es ja oft besonders interessant, und nur diesseits der Klassifizierung bleiben Lernets Provokationen lebendig.

Titelbild

Thomas Eicher (Hg.): Im Zwischenreich des Alexander Lernet-Holenia. Lesebuch und "Nachgeholte Kritik".
Athena Verlag, Oberhausen 2000.
204 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-10: 3932740572

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