Psychiatrische Wirkungsforschung vom Feinsten

Ulrike Haffmann-Richters Studie "Psychiatrie in der Zeitung"

Von Gerhard KöpfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Köpf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich bin fest davon überzeugt, dass es sich bei dieser Neuerscheinung um eine der faszinierendsten Publikationen der letzten Zeit handelt. Dieses Buch gehört nicht nur in die Bibliothek jedes Psychiaters, sondern auch jedes Journalisten und Medienwissenschaftlers. Hier handelt es sich um Psychiatrische Wirkungsforschung vom Feinsten.

Worum also geht es? Es geht um die Frage "verrückt" oder "normal". Und dies ist

zuletzt eine Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz. Darüber entscheiden aber nicht die Psychiatrischen Kliniken in Wien, Zürich oder München. Darüber entscheiden die großen und mächtigen Medien - und dies hauptsächlich in den gerne belächelten Lokalteilen. Genauer: auch diese entscheiden nicht selbst, sondern sie lassen entscheiden - das, was sie das gesunde Volksempfinden nennen. Die Herstellung dessen, was unter "Psychiatrie" fällt, geht in vollem Umfange auf unsere vorab produzierten Bedürfnisse ein. Diese aber orientieren sich nicht an Tatsachen oder Fachbegriffen, sondern an Typisierungen. Sie nehmen solche Typisierungen als Rahmenphantasien, denen es kraft der so genannten demokratischen Meinungs-Freiheiten, die sich ihre journalistischen Erzähler herausnehmen, durchaus immer wieder gelingt, unsere Vorstellungen über den Lauf der Welt zu verfälschen.

Wie bedauerlich, dass sich insbesondere viele Sprach- und Literaturwissenschaftler noch immer der banalen Einsicht verweigern, dass die Metaphorisierung von Krankheit sich nicht an Fachbegriffen, sondern an deren sozialer Repräsentation orientiert. Susan Sontag hat dies auf den Begriff von "Krankheit als Metapher" gebracht und bereits 1978 ebenso elegant wie profund darüber geschrieben.

Das zeitgenössische Medienbewusstsein hat aufgrund seiner regressiven Erkenntnisverhaltung nicht begriffen, dass die sprachliche Manifestation in vollem Umfang auf die verblödeten Bedürfnisse einer gemütlich verdummenden Gesellschaft eingeht. Diese aber richten sich nicht nach den wissenschaftlich objektivierbaren Tatsachen, sondern nach deren gesellschaftlich akzeptierten Typisierungen. Das sind jene "Rahmen-Phantasien", denen es mit ihren aberhundert pseudodemokratischen Lügen gelingt, unsere Vorstellungen gewissermaßen "erzählerisch" medial zu verfälschen.

Wer in den neuesten Lehrbüchern der Psychiatrie (Förstl, 2000) oder in dem zuletzt gut 1.800 Seiten umfangreichen Standardwerk "Psychiatrie und Psychotherapie" von Möller/ Laux/ Kapfhammer (1999) nach einer Systematik des Faches sucht, der wird ein ausführlicheres Kapitel über jenen gesellschaftlich relevanten Wirkungsaspekt vermissen, auf den beispielgebend die Stigma-Forschung bereits eingeht. Sie geht auf der Grundlage von Goffmans Klassiker "Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität" (1963, deutsch 1975) davon aus, dass die Stigmatisierung einer Krankheit wie etwa der Schizophrenie, die immerhin so häufig ist wie die Zuckerkrankheit, nicht erfolgreich behandelt werden kann, "wenn man sich nicht zugleich mit den Folgen des öffentlichen Umgangs mit ihr befaßt" (Finzen, 2001).

Genau hier setzt das ein, was ich als Psychiatrische Wirkungsforschung bezeichnen möchte. Es ist dies mithin eine Disziplin, die sich mit den Diffamierungen, Vorurteilen und Schuldzuweisungen durch die Stigmatisierung jener Krankheiten beschäftigt, die in das Fachgebiet der Psychiatrie fallen. Das Stigma - "Vorurteile von heute sind Lehrmeinungen von gestern" - wird nämlich in der Regel zur zweiten Krankheit, die der ersten an Schwere, Vehemenz und Schmerzhaftigkeit in nichts nachsteht. Der ebenso ahnungs- wie verantwortungslose Umgang von Journalisten, Politikern oder Teenagern ("schizo ist geil") mit einem Wort wie "schizophren" trägt wesentlich zu solchen Stigmatisierungen von Psychosen bei.

"Stigmatisierung, Diskriminierung, Vorurteile und Schuldzuweisungen werden für Menschen mit psychischen Störungen oft zur zweiten Krankheit. Besonders Psychosekranke leiden darunter. Kaum daß es ihnen besser geht, sind sie mit einem Dilemma konfrontiert. Sie müssen sich entscheiden, ob sie ihre Krankheit im Bekanntenkreis oder am Arbeitsplatz offenbaren. Sprechen sie über ihr Leiden, setzen sie sich der Gefahr der Diskriminierung aus. Schweigen sie, besteht die Gefahr, entdeckt und diskreditiert zu werden.... Die Vorurteile können weitreichende Folgen für das soziale Leben haben. Wie immer sich die Kranken entscheiden: sie müssen zusätzlichen Streß erdulden, gehen ein erhöhtes Rückfallrisiko ein und benötigen mehr Medikamente als sonst erforderlich. Psychiatrische Krankheiten gehen mit einer erhöhten Verletzlichkeit durch soziale und psychologische Reize einher. [...] Besonders negativ ist das Bild der Öffentlichkeit von Schizophreniekranken sowie von Alkohol- und Drogenabhängigen. Sie lösen auch die meisten Ängste vor potentieller Gewalttätigkeit aus. Abhängigen wird zudem am häufigsten die Schuld an der eigenen Krankheit zugewiesen" (Finzen).

Neben dem Basler Professor für Sozialpsychiatrie Asmus Finzen, der hierzu ebenso Lesenwertes wie Einschlägiges publiziert hat, muss vor allem auf die in jeder Hinsicht mitreißende Arbeit von Ulrike Hoffmann-Richter "Psychiatrie in der Zeitung" hingewiesen werden.

Nicht zuletzt aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit hat das Fach Psychiatrie Anlass genug, sich mit Ausgrenzungsphänomenen auseinander zu setzen. War es gestern 'lebensunwertes Leben', so sind es heute (noch immer) die psychisch Kranken. Psychiatrie ist mithin nicht nur eine medizinische Teildisziplin, sondern auch eine öffentliche Institution mit ethisch-moralischen Verpflichtungen.

Ulrike Hoffmann-Richter hat sechs überregionale Tages- und Wochenzeitungen der gesamten Jahrgänge von 1994 - 1996 ("Frankfurter Allgemeine Zeitung", "Die Zeit", "Süddeutsche Zeitung", "Die Tageszeitung", "Neue Zürcher Zeitung", "Der Spiegel") auf deren Verwendung von Begriffen wie Psychiatrie, Psychotherapie, Schizophrenie, Psychopharmaka, Neuroleptika, Antidepressiva, Tranquilizer, aber auch Gynäkologie, Leukämie, Zytostatika, Analgetika und Antibiotika auf Häufigkeit, Bedeutungswandel und wertende Rezeption hin untersucht. Der Nachweis des ungeheuerlichen Einflusses der Medien nicht nur auf unser Verständnis von Welt und Wirklichkeit, sondern auch auf unser Wissen und Nichtwissen über Krankheit und Psychiatrie ist Hoffmann-Richter dabei auf beispielhafte Weise gelungen.

Es ist einigermaßen kühn, die gesamte, methodisch hoch differenziert und perfekt abgesicherte, darüber hinaus wundervoll angenehm lesbare Untersuchung auf fünf wesentliche Ergebnisse zu reduzieren.

Fast ausschließlich werden in allen Zeitungen, die ja nun nicht gerade unter das Genre 'Revolverblättchen' fallen, Klischees reproduziert. Das zeigt uns, dass "Akzeptanz" nichts anderes ist als die "Diktatur des vorab hergestellten Geschmackes".

Kommuniziert wird im "common sense" nicht über einschlägig präzise Fachbegriffe, sondern über Metaphern mit gefährlich austauschbaren Inhalten, obgleich doch jeder meint, über das Gleiche zu sprechen.

Die metaphorisierten Begriffe haben sich von ihrem ursprünglichen Wortsinn und ihrer Bedeutung bereits so weit entfernt, dass sie auf fatale Weise "alltagstauglich" geworden sind. Das Beispiel "schizophren" ist hier besonders schlagend.

Berichte über die Psychiatrie sind bei weitem vorurteilsbehafteter, unpräziser und ideologisierter als solche über andere Bereiche der somatisch orientierten Medizin.

Die Definitionshoheit über "verrückt" und "normal" ist keine psychiatrische Frage, sondern darüber entscheidet öffentlich medial das "gesunde Volksempfinden".

Die Arbeit von Ulrike Hoffmann-Richter zeigt, dass es höchste Zeit ist, nach dem Gesundheitszustand dieses "Volksempfindens" und somit nach den Wirkungsmechanismen der öffentlichen Meinung zu fragen. Beide so eng miteinander verknüpfte, unentwegt wertende und beeinflussende Institutionen gehören auf den Prüfstand.

Eine Psychiatrische Wirkungsforschung steht also mithin vor der Aufgabe, die Fiktion von der "Aufklärung über Psychiatrie durch Medienpräsenz" zu entlarven, denn alleine durch Medienpräsenz ist noch keinerlei sachbezogene Vermittlung zwischen Fachwelt und Öffentlichkeit garantiert. Etwas, das in die Breite geht, muss nicht unbedingt an Qualität gewinnen.

Die Psychiatrie ist mit ihren herausragenden Persönlichkeiten und Pressereferaten selbst in die Pflicht genommen, ihr Verhältnis zu den Medien sowie den Umgang mit ihnen neu zu überdenken. Es gilt in erster Linie, den Sprachgebrauch sowie die gut gemeinte, oft "mundgerechte" Präsentation psychiatrischer Phänomene und Sachverhalten kritisch zu reflektieren. Gut gemeint ist eben - laut Gottfried Benn - manchmal das Gegenteil von Kunst.

Ulrike Hoffmann-Richters Untersuchung bietet dafür solide Grundlagen für eine erfolgreiche Auseinandersetzung der Psychiatrie mit deren medialisierter Präsenz. Zum Abschluss seiner Laudatio anlässlich der Verleihung des Forschungspreises der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie an Ulrike Hoffmann-Richter sagt Christian Zechert: "In der NS-Psychiatrie sind mindestens 200.000 psychisch kranke Menschen unter der Voraussetzung massiver Stigmatisierungen tödliches Opfer geworden. In unserer Gesellschaft lebt das Stigma fort, gleichwohl nicht in dieser tödlichen Form. Dennoch haben wir es nicht bewältigt." Im Gegenteil, ist man geneigt zu denken: man muss sich nur die neonazistische Bewegung vor Augen führen.

Auch und gerade deshalb brauchen wir eine Psychiatrische Wirkungsforschung. Ulrike Hoffmann-Richter hat dazu ein ebenso großartiges wie wichtiges Buch geschrieben!

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Ulrike Hoffmann-Richter: Psychiatrie in der Zeitung. Urteile und Vorurteile.
Psychiatrie Verlag, Bonn 2000.
420 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 388414295X

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Asmus Finzen: Schizophrenie. Die Krankheit behandeln.
Psychiatrie Verlag, Bonn 2001.
200 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3884142615

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