Ein liebenswerter Traditionalist

Siegfried Lenz präsentiert sich in Aufsätzen

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Siegfried Lenz ist ein liebenswerter Traditionalist, ein idealistischer Schriftsteller, der ganz der Kraft des Erzählens vertraut und zum Meister der "kleinen Tragödien" avancierte. Wesentlich kämpferischer (sofern dieses Attribut für den bedächtigen Lenz überhaupt erlaubt ist) als im durchweg melancholischen Essayband "Über den Schmerz" (1998) präsentiert sich Lenz in seinen jüngsten Aufsätzen, die in diesen Tagen unter dem Titel "Mutmaßungen über die Zukunft der Literatur" erschienen sind. Mit Blick auf die multimedialen Einflüsse, unter denen heute die Kinder aufwachsen, heißt es: "Uns unterrichten Statistiken darüber, daß die Zahl der in ihrer Sprachentwicklung gestörten Kinder weiter zunimmt und daß Legasthenie immer häufiger vorkommt. Auch wenn es dafür sicher verschiedene Gründe gibt - ein wesentlicher Grund ist der Bildschirm, ist das, was er von vorgewählter Wirklichkeit vermittelt." Dass Lenz in diesem Kontext ein leidenschaftliches Plädoyer für die Literatur als bewahrenswertes Bildungsgut hält, ist beinahe selbstverständlich. Völlig untypisch für den Skeptiker Lenz ist der in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebrachte Optimismus: "Es ist nicht schwer vorauszusagen, daß die Chancen des Buches gegenüber der Bildschirmliteratur auch für die Zukunft nicht schlecht stehen." Ein ganz anderer Lenz als noch vor drei Jahren, als er den Essayband "Über den Schmerz" (1998) mit einer Betrachtung des weltberühmten Munch-Bildes "Der Schrei" einleitete und damit dem Band auch gleich den durchgängig von Altersschwermut dominierten Tonfall mit auf den Weg gab. Im Aufsatz "Aus der Nähe" gibt Lenz Auskunft über seine Affinität zu amerikanischen Autoren, die auf sein Gesamtwerk einen nicht unerheblichen Einfluss hatten. Was sie von den europäischen Schriftstellerkollegen trennt, bringt Lenz deutlich zum Ausdruck: "In einer Hinsicht gleichen sich in Amerika Dramatiker und Erzähler: nämlich in ihrer erklärten Verbundenheit mit den sozialen und politischen Bedingungen des Lebens." Um die Darstellung des sozialen und politischen Rahmens, der die individuellen Alltagssituationen eingrenzt, ging es Lenz stets im Laufe seiner nun fünfzigjährigen Tätigkeit als Schriftsteller. Lenz hat viele Auszeichnungen und Literaturpreise erhalten, zuletzt den Goethe-Preis (1999) und vor wenigen Wochen die Ehrenbürgerwürde der Stadt Hamburg. Aber keine andere Auszeichnung war so sinnstiftend wie der ihm 1985 verliehene Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck. Die bisweilen chronistische Funktion seiner Romane, der anzutreffende Hang zur epischen Breite und die geradezu innige Verschmelzung mit seinen Figuren ("Ich bin alle meine Figuren selbst.") verbindet ihn mit Thomas Mann. Siegfried Lenz wurde am 17. März 1926 als Sohn eines Zollbeamten im ostpreußischen Lyck geboren - unweit der masurischen Seenplatte, deren malerische Schönheit er später in vielen Werken gepriesen hat. Seine Jugendjahre wurden durch den Zweiten Weltkrieg bestimmt; nach Kriegsende verschlug es ihn nach Hamburg, und schon 1951 gab Lenz nach Erscheinen seines hochgelobten Erstlings "Es waren Habichte in der Luft" den Job in der Kulturredaktion der "Welt" auf, wo er seine Frau Liselotte kennen lernte, mit der er seit über 50 Jahren verheiratet ist. Vier Jahre später schuf er die unvergessliche Figur des Hamilkar Schaß, eines einfachen Mannes aus Masuren, der erst spät das Lesen gelernt, dafür aber später Bücher geradezu verschlungen hat. Den frühen Ruhm erwarb er sich durch diesen meisterlichen Erzählband "So zärtlich war Suleyken" (1955), sowie die nachfolgenden Bände "Jäger des Spotts" (1958) und "Das Feuerschiff" (1960). Schon in diesen Frühwerken hat er seinen Stil gefunden, den er - nur in Nuancen verändert - bis heute beibehalten hat. Das hervorstechendste Merkmal ist Siegfried Lenz' Sprache, diese wohl ausgewogene Balance zwischen überbordendem Erzählfluss und einfachem Vokabular. Das hat ihn für ein Massenpublikum zugänglich gemacht, wie die Gesamtauflage von weltweit rund 25 Millionen Exemplaren nachhaltig dokumentiert. Charakteristisch für Lenz ist auch, dass er nie eine seiner Figuren denunziert hat, dass er stets mit fühlbarer Anteilnahme sein gesamtes Personenensemble entwickelt hat. Der von Lenz verehrte William Faulkner hat einmal behauptet, dass in jedem Schriftsteller auch ein Pädagoge verborgen ist. Dies trifft fraglos auch für Lenz zu, ohne dass er allerdings mit dem erhobenen moralisierenden Zeigefinger aus den Büchern hervorschaut. "Er ist ein geborener Sprinter, der sich in den Kopf gesetzt hat, sich auch als Langstreckenläufer zu bewähren", hatte Marcel Reich-Ranicki 1963 leicht despektierlich über die frühen Romane geurteilt. Siegfried Lenz hat immer darauf beharrt, mit seinen Geschichten auch Geschichte zu erzählen. Am eindrucksvollsten gelang ihm dies im Roman "Deutschstunde" (1968)in der Darstellung des Konflikts zwischen dem Kunstmaler Nansen und dem obrigkeitshörigen Dorfpolizisten Jepsen, der in der NS-Zeit das gegen seinen Jugendfreund Nansen verhängte Berufsverbot unnachsichtig überwachte. Jepsens Sohn Siggi rollt diesen "Fall" in einer Strafarbeit mit dem Titel "Freuden der Pflicht" auf. Der letzte ganz große 'Romanwurf' gelang Lenz 1978 mit dem "Heimatmuseum", dessen Umfang er "als unhöflich dick" bezeichnete. Ein leidenschaftliches Plädoyer für einen unideologischen Heimatbegriff, dargestellt am Schicksal des aus seiner masurischen Heimat vertriebenen Zygmunt Rogalla. Der Protagonist verbrennt sein in Schleswig-Holstein aufgebautes "Heimatmuseum", als ihn revanchistische Vertriebenenverbände politisch zu vereinnahmen versuchen. "Heimat ist nur eine Erfindung der Melancholie", heißt es im Roman. Insofern ist Lenz stets ein Melancholiker gewesen, denn sowohl Masuren als auch später Hamburg (oder die Küste im Allgemeinen) sind ständig wiederkehrende Schauplätze - so auch im letzten Roman "Arnes Nachlaß" (1999), dessen Handlung im Hamburger Hafen angesiedelt ist. Nicht nur die Handlungsorte, auch gewisse Motive wiederholten sich bei Lenz im Laufe der Jahre. Schon früh setzte er sich mit dem Älterwerden auseinander - erstmals 1959 in "Brot und Spiele" anhand der nachlassenden Leistungsfähigkeit eines Sportlers. Ein weiteres zentrales Sujet des naturverbundenen Autors ist die fortschreitende Zerstörung des Lebensraums. Diese beiden Leitmotive hat Lenz 1994 im Roman "Die Auflehnung" komprimiert. Darin durchleben die Wittmann-Brüder Alterungsprozess und Naturzerstörung; der eine als Tee-Experte, dessen Geschmacksnerven ihren Dienst versagen, der andere als Forellenzüchter, dessen Teiche von der Natur und wenig friedliebenden Nachbarn angegriffen werden.

Noch immer sind sich die Experten uneinig darüber, ob der Romancier Lenz oder der Kurzgeschichtenerzähler, der an Hemingwaysche Knappheit und Pointierung erinnernde Shortstory-Autor Lenz der Literatur kostbarere Juwele hinterlassen hat. Trotz der bedeutenden Romane "Deutschstunde" und "Heimatmuseum", die ihn mit Günter Grass und Heinrich Böll auf eine Stufe stellen, sind mir die Erzählungen noch stärker ans Herz gewachsen. "So zärtlich war Suleyken" (1955), "Das serbische Mädchen" (1987) und "Ludmilla" (1996) sind absolute Highlights in der deutschsprachigen Erzählliteratur: exzellent gebaute, atmosphärisch dichte Geschichten. Es sind nicht viele Autoren, die das heute noch so perfekt können. Siegfried Lenz ist einer der besten davon. Im Sport ist es fast unmöglich, was in der Literatur funktioniert: Lenz ist ein Meistersprinter auf der Kurzstrecke, ausgestattet mit einer beneidenswerten Kondition für die langen "Erzähl"-Distanzen. Und darauf möchte man - aus aktuellem Anlass - mit ihm anstoßen. Aus Hochachtung vor Lenz sogar mit einem Gläschen Aquavit, dem bevorzugten Getränk vieler seiner Figuren.

Titelbild

Siegfried Lenz: Mutmaßungen über die Zukunft der Literatur. Drei Essays.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2001.
80 Seiten, 10,20 EUR.
ISBN-10: 345504283X

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