Wir sollten mehr nachdenken

Bestürzend platter "Trost der Philosophie" Alain de Bottons

Von Gunnar KaiserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gunnar Kaiser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sechs Jahre vor der Schließung der Platonischen Akademie zu Athen durch Kaiser Justinian kommt es in der norditalienischen Stadt Pavia zu einer außergewöhnlichen Begegnung: Der zum Tode verurteilte Kanzler Theoderichs, Anicius Manlius Severinus Boethius, wird in seiner Gefängniszelle von einer Frau aufgesucht. Sie ist "von sehr ehrwürdigem Aussehen, mit feurigen und über die gemeine Kraft der Menschen durchdringenden Augen, von lebhafter Farbe und unerschöpflicher Frische". Die Frau, Allegorie der Philosophie und Seelenärztin, spendet dem Verzweifelten Trost und verabreicht eine beruhigende Medizin, indem sie ihm den Weg aus den Wirrnissen des irdischen Lebens hin zu Gott als dem vollkommenen Sein aufzeigt. Obwohl Boethius sich also unmittelbar mit dem eigenen Tod konfrontiert sieht, findet er mit Hilfe der Erkenntnis des Unwandelbaren und Ewigen zu seelischer Unabhängigkeit, Gelassenheit und Ruhe.

Das Werk, das in dieser Extremsituation entsteht, gehört zu den bewegendsten Zeugnissen einer untergehenden Epoche: "De consolatione philosophiae" - "Trost der Philosophie".

Knapp 1500 Jahre später verfasst ein in London lebender junger Schriftsteller ein Buch mit gleichem Titel - freilich unter anderen Umständen. "Trost der Philosophie" ist ebenso wie das erfolgreiche "Wie Proust ihr Leben verändern kann" eine weitere als "Gebrauchsanweisung" zu verstehende Mischung aus Philosophiegeschichte, erfindungsreicher Erzählung, Ratgeber und Bilderbuch des Schweizers Alain de Botton. Schon in seiner Beschäftigung mit Marcel Proust hatte de Botton den eher zweifelhaften Versuch unternommen, ein äußerst vielschichtiges und beziehungsreiches Werk sowie das Leben seines Autors auf simple Ratschläge zu Problemen wie "Wie man sich Zeit nimmt" oder "Wie man erfolgreich leidet" zu reduzieren. Aufgrund einer erstaunlichen Unbefangenheit und der lebendigen, unwissenschaftlichen Frische seiner Prosa hatte sein "Proust" einigen Erfolg beim Lesepublikum. Andererseits musste es sich den Vorwurf der Kritik gefallen lassen, die komplexe Thematik von Erinnerung, Zeit und Bewusstsein, die Prousts "Recherche" ausmacht, weitgehend missachtet oder nivelliert zu haben.

Was damals scheitern musste, gelingt nun umso eher, als es sich nicht mehr um poetische Texte handelt, die auf ihren Gebrauchswert hin abgeklopft werden, sondern um die Schriften und die Lebensweisen von sechs namhaften Philosophen von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Dabei ist es nicht verwunderlich, dass hier Männer zu Rate gezogen werden, deren Denken stets im offenen Widerspruch sowohl zur herrschenden Meinung als auch zu der Lebensferne der Systeme ihrer Kollegen stand - Männer, "die eine Vision von Philosophie teilten, die der griechischen Etymologie des Wortes verpflichtet war, eine Gruppe, verbunden nur durch das gemeinsame Interesse, tröstliche und zugleich praktische Dinge über die Ursachen unserer tiefsten Kümmernisse zu sagen", so de Botton zu Beginn des Buches. Und in der Tat hätten wohl zumindest vier oder fünf der Befragten ein Unternehmen begrüßt, welches das Nachdenken über die Frage "Was ist der Mensch?" zur Lösung konkreter alltäglicher Probleme wie Frustration, Geldmangel oder Liebeskummer heranzieht.

Da geht es nun also um das Problem, zwar hohe Ansprüche, aber nur wenig finanzielle Mittel zu haben. Dies löst der Autor, wer hätte es gedacht, mit dem Hinweis, man solle seine Ansprüche herunterschrauben und sich nach dem Vorbild Epikurs auf das wirklich Wichtige im Leben besinnen. Frustrierende Affekte wie Zorn, Bestürzung oder Besorgnis können wir, mit Alain de Botton, durch vernünftiges Nachsinnen über unsere Erwartungen und Hoffnungen in den Griff kriegen. Überhaupt: "Wir sollten mehr nachdenken", wie eine der bestürzend platt formulierten Empfehlungen lautet. Des Weiteren hilft uns Montaignes skeptisch-realistischer Blick auf das Leben bei sexuellen, kulturellen oder intellektuellen Unzulänglichkeitsgefühlen. Der Leser erfährt, "was kluge Leute wissen sollten", und dass dies nicht unbedingt etwas mit Montaignes "Lebensklugheit" zu tun hat. Mit einem ausführlichen Abriss über das Schicksal Arthur Schopenhauers will uns de Botton über Liebeskummer hinwegtrösten. Was ihm aber, wie wir bereits vermuteten, nicht gelingt. Denn wessen Schmerz lindert es schon, wenn er erfährt, dass seine Trauer über den Verlust nur aus dem unbewussten Verlangen des blinden Willens nach Arterhaltung herrührt?

Das abschließende Kapitel ist kurioserweise "Trost bei Schwierigkeiten" betitelt, und kein Geringerer als Friedrich Nietzsche soll dem Leser hier zusprechen. De Botton eröffnet uns, Schwierigkeiten seien am besten zu ertragen, wenn - man sie erträgt. Wir sollen uns gerade nicht über sie hinwegtrösten lassen, sollen uns nicht, wie beispielsweise Seneca riet, aus christlich-sklavischer Schwäche mit dem Möglichen begnügen, sondern das Leiden als Teil des Weges von der Mediokrität zur Erfüllung bejahen.

Hier liegt das wesentliche Problem von Alain de Bottons "Trost der Philosophie". Die eklektizistische Auswahl von Denkern unterschiedlichster geistiger Provenienz führt dazu, dass sich die Ratschläge der einzelnen Kapitel widersprechen, zum Teil ausschließen. Bei Epikur müssen wir lesen, dass wir erst existierten, wenn jemand unsere Existenz wahrnimmt - obwohl wir uns doch gerade erst mit Sokrates' Hilfe mühevoll vom Angewiesensein auf die Meinung anderer freigemacht haben! Dann, nachdem uns Epikur von der Bedeutung von Freunden für ein glückseliges Leben überzeugt hat und wir schon beschlossen haben, einen lange nicht gesehenen Freund mal wieder anzurufen, warnt uns Seneca vor der Unvorhersehbarkeit des Schicksals. Er rät: "Der Weise wünscht zwar nicht ohne Freund zu sein, aber vermag es doch." Weiter: Durch die Rationalität der antiken Philosophie dazu gebracht, das Räsonnieren als wichtigstes Mittel der Lösung von Schwierigkeiten anzusehen, enttäuschen uns de Botton und Montaigne plötzlich mit dem Vergleich mit einem Schwein, dessen reflexionsloses Leben "kein durchweg freudloses" gewesen sei. Und um die Verwirrung zu komplettieren, hören wir schließlich von Nietzsches Verachtung jedes behaglichen Quietismus zusammen mit der Preisung des Leiden und Lust vereinenden "Übermenschen".

Sicher, die Philosophie ist wie das Leben, das sie denkend zu ergründen strebt, kompliziert und widersprüchlich. Gleichwohl ist es wohl eher missglückt zu nennen, wenn ein Buch mit dem Titel "Trost der Philosophie" den umsichtig Lesenden in beträchtlicher Ratlosigkeit zurücklässt - und dies ausgerechnet mit den Gedanken eines Philosophen, der jeglichen Trost als "dekadent" zurückgewiesen hätte.

Titelbild

Alain de Botton: Trost der Philosophie. Eine Gebrauchsanweisung.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
320 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 310046317X

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