Erschütterung im roten Bereich

Helmut Kraussers bewundernswerte "Schmerznovelle"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Für 'Schmerznovelle?: Noch einmal an den Schauplatz, im nächsten September, den Geruch der Gegend in jede Zeile hauchen. Ganz ganz harte Arbeit leisten. Nicht leichtfertig zufrieden sein mit dem, was aus sich selbst begonnen hat zu schreiben."

Es wäre einmal an der Zeit, die Tagebücher von Helmut Krausser zu entdecken. Sie sprechen von den Aberrationen der westlichen Wohlstandswelt, von ihrer "Nouvelle Décadence", die sich im Wohn- oder Kleidungsverhalten ebenso zeigt wie in den sexuellen Perversionen der Kontaktanzeigen. Letztere zitiert Krausser nicht ohne Vergnügen und ureigenstes Interesse, denn in sein literarisches Werk haben die Abgründe menschlicher Leidenschaften schon lange Einzug gehalten.

So auch in die "Schmerznovelle", die 1999/2000 entstanden ist, die "aus sich selbst begonnen hat zu schreiben" und den Autor auf dem bisherigen Höhepunkt seiner Erzählkunst zeigt. Man weiß nicht, was man mehr bewundern soll: die schlanke Ökonomie dieser Erzählung oder die Stringenz, mit der sie sich von einer sexualpathologischen Fallgeschichte zu einem - ebenso spannenden wie grotesken - Kriminalfall entwickelt.

Da sie auch Krimi ist, darf von der Geschichte nicht allzu viel verraten werden. Der Protagonist, soviel sei jedoch gesagt, ist Psychotherapeut, der in der Nachsaison einen kleinen Kurort besucht und dort das "Ehepaar" Palm kennen lernt, ein Paar, dem ein sonderbarer Ruf vorauseilt. Und der von der Wirklichkeit noch weit übertroffen wird.

In seinem Tagebuch vom Dezember 1999 schildert Helmut Krausser seine Arbeit an der "Schmerznovelle", die Fortschritte ebenso wie die Rückschläge. Sein Problem damals ist der ästhetische Balanceakt, der hier zu bestehen sei: "Es geht um den schmalen Grat zwischen bizarrer Erotik und Pornographie. [...] Jeder Satz muss auf der richtigen Frequenz bleiben. Die Nadel schnellt bei den geringsten Erschütterungen in den roten Bereich. Die Geschichte ist unerotisch und muss auch so erzählt werden. Ohne sich den Vorwurf fehlender Sinnlichkeit einzufangen."

Der Erzähler der "Schmerznovelle" ist Wissenschaftler, Psychiater, gewohnt, mit klinischer Distanz an seine Fälle heranzugehen. Doch im Fall Palm verliert er schnell seine privilegierte Position als Beobachter. Rasch ist er ein Involvierter, ein von seinen Leidenschaften Gepackter, der ein dämonisches Verlangen in sich entdeckt und sich auf ein gefährliches Abenteuer einlässt. Ähnlich wie in Schnitzlers "Traumnovelle" muss es in dieser Geschichte ein Opfer geben, damit er wieder in die Wirklichkeit entlassen werden kann.

Der Protagonist ist Täter und Opfer zugleich. In der dargestellten Welt der "Psychopathia Sexualis", in der Sexualität indirekt ausgespielt, quasi "über Bande" gespielt wird, gerät er kurzzeitig selber ins Visier der Polizei und wird verdächtigt, einen Mord begangen zu haben. Als Psychologe, der sich nach und nach die gesamte Vorgeschichte der Familie Palm erarbeitet, untersucht er die pathogene Hörigkeit der Ehefrau Johanna Palm ihrem Mann Ralf gegenüber. Sein wissenschaftliches Interesse mündet in eine leidenschaftliche Motiv- und Spurensuche - der Detektiv fungiert zugleich als Lockvogel und Versuchsperson. Als Erzähler hat er darüber hinaus eine "analytische Funktion" (Torsten Pätzold), die durch die Erzählhaltung zum richtigen Verhältnis von Nähe und Distanz entscheidend beiträgt.

Krausser präsentiert uns eine Prosa von morbider Grandezza bzw. grandioser Morbidezza. Zu ihrer Spannung trägt die trocken-verhaltene Komik bei, die zu allen Texten Kraussers gehört, die sich auf die Tradition der Groteske berufen können. Nach diesem monströsen Fall kann der Protagonist, der Therapeut, seinen Beruf selber nicht mehr ernst nehmen, auch wenn er ihm entscheidende Einsichten verdankt: Einsichten über das Verhältnis von Verzweiflung und Kreativität, Eifersucht und Besitzgier, Ehrgeiz und Überforderung, sowie über Zwischenformen der Existenz, die an das christliche Modell des Limbus erinnern. Nicht zu übersehen ist, dass Krausser seine Erzählung auch als Heilsgeschichte angelegt hat, in der der Therapeut als Erlöser auftritt, ein merkwürdiger, nicht geglaubter Heiland ohne "Kraft" und "Herrlichkeit", der konsequent an seiner eigenen Demontage mitarbeitet.

Im Tagebuch des Dezember 1999 spricht sich der Autor Mut zu: "Die 'Schmerznovelle? könnte dein bestes Buch werden. Das allerbeste." Voilá, hier ist es.

Titelbild

Helmut Krausser: Dezember. Tagebuch des Dezember 1999.
Belleville Verlag, München 2000.
154 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3933510775

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Titelbild

Helmut Krausser: Schmerznovelle.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2001.
144 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3498035061

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Torsten Pätzold: Textstrukturen und narrative Welten. Narratologische Untersuchungen zur Multiperspektivität am Beispiel von Bodo Kirchhoffs Infanta und Helmut Kraussers Melodien.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
380 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3631369018

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