Glitzernde Wortkaskaden für das gehobene Feuilleton

Hans-Ulrich Wehler über naive Soziologen, Neoliberale und Postmodernisten

Von Philipp StelzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Stelzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer, wenn er Hans-Ulrich Wehlers polemische Essays lese, lerne er neue beleidigende Ausdrücke, hat der englische Sozialhistoriker Richard Evans kürzlich in der "taz" bemerkt. In der Tat sind verbale Rundumschläge fester Bestandteil der Aufsätze des Bielefelder Emeritus und steigern - auch wenn sie manchmal etwas übertrieben scheinen - den Unterhaltungswert der Lektüre beträchtlich. Sein neuer Band "Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert" bietet jedoch weit mehr als reine Polemik.

Die in den letzten drei Jahren entstandenen 20 Beiträge gliedern sich in vier Abschnitte: Zuerst behandelt Wehler verschiedene Aspekte des Nationalismus, dann setzt er sich mit der angeblichen Systemgefährdung der Bundesrepublik und somit auch den Parallelen zur Weimarer Republik auseinander. Der dritte Abschnitt spiegelt Wehlers sozial- und gesellschaftsgeschichtliche Interessen wider. Abschließend werden einige innerwissenschaftliche Probleme dargestellt.

Ausführlich widmet sich Wehler dem Thema "Historiker im Nationalsozialismus". Spätestens seit dem Frankfurter Historikertag 1998 erscheinen wichtige Figuren der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft wie Theodor Schieder (bei dem Wehler promoviert und sich habilitiert hat), Werner Conze oder Karl Dietrich Erdmann in neuem bzw. düsterem Licht. Ihr Verhalten im Nationalsozialismus, das man kaum als bloße "Verstrickung" bezeichnen könne, beschönigt Wehler nicht. Er ist allerdings der Ansicht, dass man es gegen die Verdienste aufwiegen müsse, die sie sich nach 1945 um die deutsche Geschichtswissenschaft erworben hätten. Dazu zähle nicht nur ihr Einsatz für neue Methoden und Perspektiven, sondern auch eine grundsätzliche Liberalität gegenüber ihren Schülern. Schon seine Forderung nach dem "Aufwiegen" der verschiedenen Lebensabschnitte Schieders und Conzes ist besonders von jüngeren Historikern scharf kritisiert worden. Umso mehr muss man bemängeln, dass Wehler nicht auf den Vorwurf eingeht, ihre Schüler, also auch er selbst, hätten auf kritische Fragen an ihre akademischen Lehrer verzichtet - aus welchen Gründen auch immer. Ferner ist doch sehr zweifelhaft, ob die Offenheit bezüglich ihrer Rolle im Nationalsozialismus Schieder und Conze wirklich nur den Respekt ihrer Schüler - so Wehler - und nicht vielmehr den Verlust ihrer Lehrstühle eingebracht hätte. Bei der Frage nach den "braunen Wurzeln" der Sozialgeschichte argumentiert Wehler hingegen überzeugend, dass diese weitaus mehr von Hans Rosenberg und später von Gerhard A. Ritter beeinflusst wurde und dass das theoretische Fundament von Marx und Weber und nicht etwa von Gunther Ipsen stammte.

Wehlers letzte Essaybände enthielten stets auch Beiträge zur Geschichte des Deutschen Kaiserreiches. Wie schon im Titel erkennbar, befasst sich der Bielefelder Historiker diesmal fast ausschließlich mit dem "kurzen 20. Jahrhundert" (Eric Hobsbawm). Insofern kann man den neuen Band auch als Vorarbeit für den vierten Band seiner "Deutschen Gesellschaftsgeschichte" betrachten, der diese Periode behandeln soll. Im Hinblick auf den Nationalsozialismus fordert er eine intensivere Beschäftigung mit dem damaligen radikalen Nationalismus. Bislang habe man sich bei der Erklärung des Aufstiegs und der Herrschaft der Nationalsozialisten zu sehr auf "Hitlers Weltanschauung" (Eberhard Jäckel) konzentriert. Die Steigerungsfähigkeit des Nationalismus zum Radikalnationalismus - oder sogar zur "Politischen Religion" - hält Wehler für einen wichtigeren Faktor der "Extremisierung" als etwa den wirtschaftlichen und sozialen Einbruch des Mittelstands. In der neuen Nationalismusforschung müssten schließlich auch vermehrt Ansätze aus der Geschlechter- und der Körpergeschichte angewandt werden, um sich mit der These eines spezifisch männlichen Nationalismus oder den Körpererfahrungen der Soldaten im Ersten Weltkrieg auseinander zu setzen.

Die Nationalismus-Diskussion führt Wehler ferner zu der Frage nach etwaigen Alternativen zum klassischen Nationalstaat. Der Blick auf Nationalismus und Nationalstaat zeige, dass deren "historische Bilanz schlechthin verheerend" sei. Wehlers Standpunkt ist eindeutig: "Die demokratische Staatsbürgergesellschaft ist Legitimationsquelle genug, sie bedarf nicht der fatalen Erfindung der souveränen Nation".

Überraschen wird Wehlers Plädoyer für eine undogmatische und flexible Totalitarismustheorie, die zwar weniger zur Darstellung der Aufstiegsphase, umso mehr hingegen der Regimephase rechts- und linksradikaler Bewegungen beitragen könne. Der Aufsatz zur DDR-Geschichte, in dem Wehler in diese Richtung argumentiert, enthält auch die Staunen erregende Bemerkung, eine moderne Politikgeschichte könne den Grundstrukturen der DDR möglicherweise eher gerecht werden als ein gesellschaftsgeschichtlicher Ansatz. Hier zeigt sich die beeindruckende Bereitschaft Wehlers, eigene Positionen zu überdenken und gegebenenfalls zu modifizieren.

Die Beiträge zur Geschichte der Bundesrepublik sind durchgehend mit dem Eintritt für eine - diesen Namen verdienende - Soziale Marktwirtschaft und einer historisch fundierten Kritik am Neoliberalismus verbunden: Die international vergleichende Geschichte des Industriekapitalismus zeige, dass Marktwirtschaft und Interventionsstaat nicht voneinander zu trennen seien. Für unabdingbar hält Wehler andererseits die Änderung der "erfolgsverwöhnten Mentalität" vieler Westdeutscher wie auch eine allgemeine Diskussion über die zukünftige Gestalt der Gesellschaft und der sie prägenden Werte.

Ziel der meist sehr persönlichen Wehlerschen Kritik waren bislang vor allem einerseits konservative Vertreter der - seiner Ansicht nach - methodisch hoffnungslos antiquierten Politikgeschichte wie Klaus Hildebrand und Gregor Schöllgen, andererseits britische Neomarxisten wie David Blackbourn und Geoff Eley, die Wehlers "Sonderweg"-These von links unter Beschuss genommen hatten. Erstere finden diesmal keine Erwähnung, letzteren wird sogar die Bereicherung jener Sonderwegs-Diskussion bescheinigt. Stattdessen nimmt sich Wehler nun Ulrich Beck vor, dessen "glitzernde Wortkaskaden" die "Plausibilität des gehobenen Feuilletons" besäßen und die Ergebnisse der empirischen Sozialforschung über die soziale Ungleichheit vernachlässigten. Dies ist jedoch keinesfalls als Fundamentalkritik an "der" Soziologie zu verstehen; Wehler hat vielmehr stets für eine Kooperation zwischen Geschichts- und Sozialwissenschaften plädiert. Ferner kritisiert er die "dürftige normative und historische Substanz" Michel Foucaults, dem Protagonisten der "postmodernen Denkverwilderung".

Insgesamt dokumentiert die Aufsatzsammlung einmal mehr Wehlers beeindruckende Vielseitigkeit und Literaturkenntnis, seine Fähigkeit zum Überdenken der eigenen Positionen, sein moralisches Engagement und nicht zuletzt den zumeist unterhaltsamen Hang des Autors zur Polemik.

Titelbild

Hans-Ulrich Wehler: Umbruch und Kontinuität. Essays zum 20. Jahrhundert.
Verlag C.H.Beck, München 2000.
342 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3406459404

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