Literatur als Medium - Literatur und Medien

Eine Skizze

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Jeder benutzt die Konjunktion "und" im Laufe eines Tages unzählige Male, um mit ihr Wörter, Satzteile oder ganze Sätze zu verbinden oder um einem Gedanken schnell noch einen weiteren hinzuzufügen. Ihr Gebrauch wird dabei nicht reflektiert. Dass man sie tunlichst nicht am Satzanfang verwenden soll, lernt man bereits in der Grundschule, auch wenn uns später die Lektüre von Schriftstellern des 19. und 20. Jahrhunderts eines Anderen, vielleicht sogar Besseren belehrt. Die Konjunktion "und" kann jedoch überraschend schnell an Bedeutung gewinnen, vor allem dann, wenn sie in einem offiziellen oder institutionellen Kontext verwendet wird. Wo die akademische Beschäftigung mit Sprache, Literatur und Medien nicht schon Kulturwissenschaft genannt wird, geschieht sie gemeinhin an einem Institut für Neuere deutsche Literatur und Medien. Es scheint, als ginge die Funktion des kleinen Wörtchens "und" in Namensgebungen wie dieser über die bloße Beiordnung von zwei Begriffen hinaus. Weniger ein additives als ein adversatives Verhältnis scheint sich zwischen ihnen anzudeuten. Folglich verbindet das Bindewort "und" nicht nur, sondern grenzt auch voneinander ab. Dass dem so ist, wusste bereits einer der großen Schriftsteller deutscher Sprache. Von "Deutschland und den Deutschen" hatte Thomas Mann anlässlich seines 70. Geburtstags am 29. Mai 1945 in der Washingtoner Library of Congress gesprochen und mit Blick auf den Nationalsozialismus davor gewarnt, beides miteinander gleichzusetzen. Die Konjunktion "und", so hat es den Anschein, vermag zwei Begriffe stärker voneinander zu scheiden, als die Disjunktion "oder" dazu imstande wäre.

Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden? Über diese Frage diskutieren seit drei Jahren Vertreter unterschiedlicher Fachrichtungen im "Jahrbuch der deutschen Schiller-Gesellschaft", und mit Recht wird sie von der Mehrheit verneint. Die Literaturwissenschaft verliert nicht ihren Gegenstand, sondern erweitert mit der Hinwendung zu den Medien wieder einmal ihr Spektrum. Dabei erschließt sie nicht nur neue Bereiche des geistigen und kulturellen Lebens, sondern gewinnt auch neue Perspektiven auf traditionelle Gegenstände, denen sie vielleicht schon nichts mehr abzugewinnen wusste. Literatur und Medien - der Gegensatz, den heute noch mancher empfindet, wird morgen kaum noch spürbar sein. Die Beschäftigung mit dem einen wird die mit dem anderen befruchten, die Beschäftigung mit beidem dazu beitragen, die Welt im wahrsten Sinne des Wortes lesbar zu machen. Gerade darin liegt die Chance einer Verbindung von Literatur und Medien.

Was aber bedeutet dies für die Verbindung von Literatur und Medien? Handelt es sich hierbei um zwei verschiedene Gegenstandsbereiche? Darf Literatur etwa nicht als Medium gelten? Die Germanistik hat sich seit ihrer Gründung als Medienwissenschaft verstanden. Als das Fach zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus der Taufe gehoben wurde, wandten sich seine Vertreter im Rückgriff auf die Methoden der Klassischen Philologie beinahe ausschließlich den Literaturdenkmälern des germanischen Altertums zu. Die Betonung liegt dabei auf "Literatur". Als solche nämlich begriff man - ausgehend von lat. litterae, dem Buchstaben, der Schrift - die Gesamtheit aller schriftlichen Äußerungen aus den überlieferten Anfängen der Literatur, während der Begriff "Dichtung" zunächst dem Vorliterarischen, auf eine orale Tradition Zurückweisenden vorbehalten blieb, sofern es formalen Kriterien genügte. Anders gesagt: Erst durch die Anbindung an das Medium der Schrift wird Dichtung zur Literatur. Der Kanon der Germanistik wandelte sich rasch und mit Notwendigkeit. Blieben die Forschungen zunächst nur auf die handschriftliche Überlieferung des Mittelalters beschränkt, so geriet bald auch das Zeitalter des Buchdrucks und schließlich sogar die zeitgenössische Literatur ins Blickfeld.

Durch die um 1827 in Frankreich als Littérature comparée begründete, in Deutschland zunächst fruchtlos betriebene und erst nach dem Zweiten Weltkrieg sinnvoll institutionalisierte Komparatistik erhielten die Neuphilologien und mit ihnen die Germanistik insofern neue Impulse, als das Konzept nationalphilologischer Betrachtung von Literatur zugunsten einer interdisziplinären und internationalen aufgegeben wurde. Bestätigt fand man sich durch keinen Geringeren als den Dichterfürsten Johann Wolfgang von Goethe, der sich ebenfalls 1827 mehrmals zur Konzeption einer Weltliteratur bekannt hatte: "Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen", heißt es im Gespräch mit Eckermann vom 31. Januar, das Goethe am 12. Oktober in seinem Brief an Boisserée sogleich präzisiert: "Hierbei läßt sich ferner die Bemerkung machen, daß dasjenige, was ich Weltliteratur nenne, dadurch vorzüglich entstehen wird, wenn die Differenzen, die innerhalb der einen Nation obwalten, durch Ansicht und Urteil der übrigen ausgeglichen werden." Während die Komparatistik in Deutschland überwiegend zwar als vergleichende, aber immer noch als Literaturwissenschaft betrieben wurde, dehnte man im anglo-amerikanischen Raum das Spektrum der Comparative Arts frühzeitig über die Literaturwissenschaft aus und legte mit der Hereinnahme von Musik, Kunst, Fotografie und Film den Grundstein für das, was sich als Kultur- oder Medienwissenschaft an den deutschen Universitäten etablierte. Oskar Walzels Auffassung einer "wechselseitigen Erhellung der Künste" (von 1917) schien damit ihren institutionellen Rahmen erhalten zu haben.

Angesichts des rasanten Wandels medialer Paradigmen treten die symbiotischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Kunstformen heute deutlicher in Erscheinung denn je. Eine fragmentarisierte Kunstwissenschaft mit ihren arbeitsteiligen Prinzipien wird dem Kunstwerk in seiner Ganzheit nicht mehr gerecht, und es darf mit gutem Grund bezweifelt werden, dass sie ihm jemals gerecht geworden ist. Kunst stellt sich als ein intermedial zu begreifendes Phänomen dar, das sie im Prinzip immer schon war. Die Lyrik der alten Griechen etwa lässt sich nicht ohne die Lyra, der Minnesang nicht ohne den Gesang verstehen. Thomas Mann und Marcel Proust haben die Musik zum Gegenstand von Romanen gemacht, Thomas Bernhard und der späte Arno Schmidt das gemalte Bild. In der visuellen Poesie konkretisiert sich der Übergang vom Text zum Bild, Futuristen und Surrealisten nahmen gar Fotosequenzen in ihre Texte auf. Der zeitgenössische Film schließlich, wie die Oper ein "Gesamtkunstwerk", wird nur aus dem Zusammenwirken von Bild, Wort und Klang verständlich und macht eine vielschichtige Analyse erforderlich, an der etwa Semiotik, Narrativik und Soziologie gleichermaßen Anteil haben. Eine ausschließlich an der Literaturwissenschaft orientierte Methodik würde Kunstwerken wie diesen wohl auch kaum gerecht.