Strengste Toleranz

Rituale mehr jenseits als diesseits von Religionen

Von Christoph Schmitt-MaaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christoph Schmitt-Maaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das allmorgendliche Zähneputzen, die Tasse Kaffee vor Arbeitsbeginn und die Fahrt zur Arbeit: alltägliche Rituale? Im Zuge der Verselbstständigung der Ritual-Studies werden auch diese Rituale des Alltags unter religionswissenschaftlicher und ethnologischer Perspektive einer tieferen Analyse unterzogen.

War für Émile Durkheim das Ritual noch die Möglichkeit, soziale Solidarität zu schaffen, für Freud die Möglichkeit der Traumaverdrängung, und für Bronislaw Malinowski die Beeinflussung der natürlichen Umwelt, so muss in Zeiten der postmodernen Beliebigkeit ein anderes Konzept her: im Markt der Religionen (Luckmann) richtet sich das Ritual nur anders aus als es bisher verstanden wurde. Stereotypes Verhalten und sich wiederholende Formalia sind für eine Vielzahl von Religionswissenschaftlern und Ethnologen Anlass genug, in heimischen Gefilden das verlorene Paradies anzusiedeln und eben dort nach den neuen edlen Wilden zu suchen.

Wie so viele neuere Forschungsschwerpunkte neigt auch die Ritualforschung dazu, in allem und jedem ihren Gegenstand zu finden. Sei es das Fußballspiel, die politische Hexenjagd oder der Initiationsritus des soeben aufgeschlagenen Buches: Rituale, wohin man sich auch wendet. Das Ziel scheint eindeutig: Rekonstituierung des in der Postmoderne abhanden gekommen Heiligen. Dass dabei Trivialitäten den Beobachtungsraum erfüllen, dass der Begriff des Rituals und des Religiösen bis zum Allanspruch ausgedehnt wird, scheint die Forscher nicht weiter zu stören - dem genuin Heiligen (Rudolf Otto) haben sie abgeschworen, nun beginnt die Suche nach neuen Wahrheiten, Riten und Gottheiten verpackt in der durchlässigen Watte strengster Toleranz.

Jenseits dieses Rahmens bildet das Buch eine solide Basis für all jene, die sich mit den Beiträgen der Ritual-Studies beschäftigen (müssen). Grundlagentexte von Clifford Geertz und Mary Douglas rufen noch einmal den Ursprung der Ritualforschung ins Gedächtnis, ohne an Aktualität eingebüßt zu haben. Zahlreiche namhafte Forscher haben darüber hinaus diese Grundlagen ausgeweitet und konkretisiert. Die Einführung ist zweigeteilt: im ersten Teil werden allgemeine Ritualtheorien formuliert, der zweite Teil führt diese Theorien in Alltagsbeispielen weiter aus. Das Theater steht dabei ebenso sehr im Interesse wie Rechtsrituale. Damit bereiten Belliger und Krieger einem in Deutschland noch weitgehend unbearbeiteten Forschungsfeld den Weg.

Titelbild

Andréa Belliger / David J. Krieger (Hg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch.
Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 1998.
485 Seiten, 25,50 EUR.
ISBN-10: 3531132385

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