Nach allen Regeln der Heilkunst

Die Geschichte der medizinischen Wissenschaft, spannend erzählt von Roy Porter

Von Karin LangeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karin Lange und Armin VollmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Armin Vollmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Geschichte der Medizin, dieser Mischung aus Ideen und Institutionen, Theorie und Praxis, Handwerk und Wissenschaft mit ihren geteilten, konkurrierenden Berufsgruppen, ist durchweg verworren und weniger klar umrissen als etwa die Geschichte der theoretischen Physik". So heißt es in einem Kapitel des nun auch auf deutsch vorliegenden Buches "Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute" des renommierten britischen Medizinhistorikers Roy Porter. Schon der Untertitel verrät, mit welchem Anspruch sich der Autor dem Thema widmet. Krankheit und Gesundheit sind nicht als einander ausschließende Gegensätze zu verstehen, sondern gehen ineinander über und prägen das Leben und das Zusammenleben der Menschen, sowie auch umgekehrt sich gesellschaftliche Tendenzen in der Medizin niederschlagen.

Auf über 800 Seiten führt der Autor den Leser von den Wurzeln der Medizin über die ersten medizinischen Gehversuche der alten Hochkulturen Mesopotamiens, Ägyptens, Griechenlands und Roms über die großen Epidemien des Mittelalters bis zur medizinischen Wissenschaft der Neuzeit, mit ihren zahlreichen Entdeckungen und Erfindungen. Intensiv behandelt Porter das 19. Jahrhundert und legt dabei seinen Schwerpunkt auf die Iatrochemie, die Chemie des Heilens, sowie auf die damalige medizinische Versorgungslage.

In den Mittelpunkt seiner Arbeit stellt der Autor die westliche Medizin, die der indischen oder chinesischen Medizin überlegen sei, würdigt aber auch diese traditionellen Formen des Heilens mit eigenen Darstellungen. In der zweiten Hälfte des Buches finden dann medizinische Spezialgebiete ausführlichere Erwähnung, nachdem sie in ihrem zeitlichen Bezug kurz umrissen wurden. Hierzu zählen die Chirurgie, die Psychiatrie, die Tropenmedizin sowie die medizinische Forschungstradition allgemein. Der Autor kritisiert in diesem Zusammenhang die Geschichtswissenschaft, die die Medizingeschichte aus Unwissenheit oder Gleichgültigkeit vernachlässige: "Die geschichtliche Dokumentation ist wie der Nachthimmel: Wir sehen einige wenige Sterne und fassen sie zu mythischen Konstellationen zusammen. Hauptsächlich jedoch herrscht Dunkelheit." Porter hat mit seinem Buch versucht, Licht in das Dunkel zu bringen.

Will man den gesamten geschichtlichen Bogen der Medizin vom Altertum bis heute spannen, so kommt man natürlich nicht an ihren herausragenden Protagonisten wie Aristoteles, Galen, Paracelsus, Pasteur oder Robert Koch vorbei. Typisch sowohl für die Heilkunst Griechenlands als auch für die des Römischen Reiches waren Privatgelehrte wie der aus Pergamon stammende Galen (*129 n. Chr.). Seine Thesen bildeten fast ein Jahrtausend lang den geistigen Unterbau praktischer Medizin. Wenngleich er, wie damals üblich, Obduktionen am menschlichen Körper ablehnte, so verfügte Galen doch über ein erstaunliches anatomisches Grundwissen, mit dem er sich auch gern vor großem Publikum wirkungsvoll in Szene setzte. Die galenische Lehre, derzufolge die Philosophie zwar die Medizin fördern solle, der Arzt aber die Philosophie beherrschen müsse, fußt auf drei Säulen: der Logik (Disziplin des Denkens), der Physik (Wissenschaft von der Natur) und der Ethik (Wissenschaft vom Handeln). Waren viele Überlegungen Galens im Hinblick auf die Natur der Krankheiten richtig und förderlich, so irrte er in seinen Behauptungen zur menschlichen Anatomie. Seine Annahmen über den Verlauf der Venen und sein Modell der Blutbewegung wurde erst von den Anatomen der Renaissance in Frage gestellt. Die Medizin des Altertums war eine persönliche Angelegenheit: medizinische Titel wurden nicht vergeben und entsprechende Qualifikationen nicht verlangt. Institutionen wie Hochschulen und Universitäten gab es nicht - heftig rivalisierende medizinische Autoren mit eigener Anhängerschaft dafür umso mehr.

Akademischer geprägt war hingegen die medizinische Wissenschaft des Mittelalters. Paracelsus ("über Celsus hinaus"), wie sich Theophrastus Philippus Aureolus Bombastus von Hohenheim (um 1493 - 1542) selber nannte, studierte Medizin in Italien und führte anschließend ein Wanderleben. Er sammelte Wissen von einfachen Handwerkern, machte zahlreiche Naturbeobachtungen und war, beeinflusst durch Schriften mittelalterlicher Okkultisten, letztlich vom Wirken unsichtbarer Kräfte als spirituellen Vermittlern zwischen Gott und Mensch überzeugt. In Ablehnung kanonischer Lehrbücher der Medizin und insbesondere der galenischen Lehre gilt Paracelsus damit zwar als Neuerer, ist aber als Verfechter von mythischen und esoterischen Vorstellungen (er wurde und blieb der Schutzpatron der alternativen Medizin) eher eine paradoxe Erscheinung und nicht der - wie häufig behauptet wird - Begründer der wissenschaftlichen Medizin. Paracelsus' tiefste Überzeugung war, dass die Natur alles beherrsche und es oberste Pflicht des Heilers sei, sie zu kennen und ihr zu dienen. Wie ambivalent seine Ansichten auch sein mögen - seine hingebungsvolle Suche nach Wahrheit mittels Beobachtung und Versuch war wie ein frischer Wind, und sie inspirierte die neue Medizin der Wissenschaftlichen Revolution, die etwa zur Zeit seines Todes einsetzte.

Mit den revolutionären Neuerungen der Wissenschaften ging auch eine radikale Modernisierung der Heilmethoden einher. Andreas Libavius etwa (um 1550 - 1616) befürwortete in seiner "Alchymia" ( "Alchemie", 1597), die viele als das erste Lehrbuch der Chemie betrachten, den Gebrauch chemischer Arzneien, verurteilte jedoch die Verworrenheit der paracelsischen Ideen und proklamierte eine "rechtschaffende Scheidekunst" oder "wahre Chemie" ohne Aberglauben.

Der wissenschaftliche Disput jener Zeit war geprägt vom Widerstreit der großen Strömungen mit den Paracelsisten auf der einen und den Galenikern auf der anderen Seite. In ihrer Rebellion gegen die galenische Elite wandte sich die paracelsistische Iatrochemie, die Wissenschaft des Heilens mittels chemischer Erkenntnisse, an alle: Chirurgen, Apotheker, Empiriker und irreguläre Heiler. Die Auseinandersetzungen zur Zeit der Reformation gerieten zusehends in den Einflussbereich der Politik - Théophraste Renaudot (1584 - 1653), Nicholas Culpeper (1616 - 1654) und andere standen für eine Reform von Medizin, Bildung und Regierung.

Ende des 17. Jahrhundert verlor auch der Paracelsismus an Einfluss und wurde von der medizinisch-chemischen Forschung unter der Flagge der "neuen Philosophie" überholt und absorbiert, die mit der Gründung der "Royal Society" in England, in Frankreich mit der "Académie Royale des Sciences" und in Italien mit der "Accademia del Cimento" verknüpft war. Über ein Jahrhundert später war es Louis Pasteur (1822 - 1895), der mit seiner epochemachenden Entdeckung von der Bedeutung der Mikroorganismen für Wohl und Übel der Menschheit der medizinischen Forschung einen neuen Schub gab. Sein Experiment zur Widerlegung der These von der spontanen Entstehung, die sein Landsmann Pouchet (1800 - 1872) vertrat, ist heute legendär. Sein wahrscheinlich größtes Verdienst ist, neben dem nach ihm benannten Verfahren zum Konservieren von Lebensmitteln durch schonendes Erhitzen, die Entdeckung der immunisierenden Wirkung abgeschwächter Krankheitserreger.

Neben Pasteur war es aber vor allem Robert Koch (1843 - 1910), der der Bakteriologie zu einem Aufstieg in den Reihen der wissenschaftlichen Disziplinen verhalf. Seine sorgfältigen mikroskopischen Arbeiten untermauerten die Keimtheorie und waren Grundlage für die berühmten Koch'schen Postulate, dass jede Krankheit von einem spezifischen Agens hervorgerufen werde und sich damit kontrollieren lasse, sobald man dieses Agens isoliert habe.

Roy Porter geht auch auf die politische Dimension der Medizin ein. Ein bedeutender Verfechter der "politischen Medizin" im 19. Jahrhundert war Rudolf Virchow. Virchow vertrat die Auffassung, dass "die Fortschritte der Medizin das Leben der Menschen letztlich verlängern werden", dass aber durch "die Verbesserung der Lebensumstände" dieses Ergebnis "rascher und erfolgreicher" erreicht werden kann.

Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde die Medizin immer stärker Bestandteil des sozialen und politischen Gefüges der Industriegesellschaften. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Gesundheit Gegenstand von Propagandaschlachten. Später entwickelte sich die Medizin zu einer Dienstleistung, deren therapeutischem Füllhorn die Öffentlichkeit mehr und mehr unterlag. Roy Porter weist dabei auf ein paradoxes Phänomen des medizinischen Fortschritts hin: auf "das immer noch bestehende Ungleichgewicht zwischen bemerkenswerten Möglichkeiten einer zunehmend potenteren wissenschaftlich fundierten biomedizinischen Tradition einerseits und größeren unerfüllten gesundheitlichen Bedürfnissen ökonomisch verarmter, kolonial unterworfener und politisch schlecht geführter Gesellschaften andererseits."

Reizthemen wie "Gentherapie" oder "pränatale Diagnostik" sucht man im Stichwortverzeichnis vergebens. Der Autor zeigt sich zuweilen skeptisch gegenüber diesen seiner Meinung nach in der Literatur überproportional vertretenen Sachthemen. Als wohltuend erweist sich, dass Porter sich gerade nicht zu einer unkritischen Huldigung moderner Medizin hinreißen lässt. Vielmehr stellt sich die Frage, ob sich in diesem Klima der Übertreibung die überzogene Erwartung manifestiert, für alle Krankheiten eine genetische Ursache zu finden. Dies könnte letztendlich in einer Eugenik enden.

Das Buch bietet profundes Faktenwissen in einer spannenden, leicht lesbaren Form, selbst oder gerade für den interessierten Laien. Es ist nicht nur ein Abriss der Medizinhistorie, sondern eine fesselnde Geschichte über Irrungen und Wirrungen, kleine und große Revolutionen in der oft mühsamen und manchmal auch tragischen Medizingeschichte. Es bleibt zu bedauern, dass dieser Reichtum an Informationen sich nicht durch ein ausführliches Inhaltsverzeichnis und Glossar erschließen lässt.

Titelbild

Roy Porter: Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute.
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/ Berlin 2000.
818 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 382740472X

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