Prometheus und kein Ende

Ein interdisziplinärer Sammelband nimmt den Mythos der Kultur in den Blick

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In der altgriechischen Sage schuf Prometheus, Abkömmling eines entmachteten Göttergeschlechts, den herrschenden Olympiern zum Trotz die Menschen und lehrte sie nützliche Künste, die sie auf lange Sicht von den Göttern emanzipieren mussten. "Ob er gleich selber wußte, daß er dereinst schrecklich würde dafür büßen müssen", trachtete er, "seine Menschenschöpfung und Menschenbildung zu vollenden", wie Karl Philipp Moritz in seiner Darstellung der antiken "Götterlehre" (1791) schrieb. Die Menschen indes erwiesen sich als undankbar, und der Lohn des Aufklärers war fürchterlich. Ewige Folter dachte Zeus ihm zu.

Schon in der Antike war dieser Mythos Gegenstand verschiedenster Deutungen, weil er sich leicht als Allegorie der "Situation des Menschen" überhaupt (so Francis Bacon 1609) interpretieren ließ. Das aufklärerische Standardlexikon zur antiken Mythologie, 1724 von Benjamin Hederich erstmals veröffentlicht und 1770 in revidierter Fassung neu aufgelegt, resümiert verschiedene dieser Deutungen, schließt dann den "Prometheus"-Artikel mit der ungewöhnlichen Aufforderung: "Mehrere solche Deutungen kann sich ein jeder selbst machen." Der Satz war das verdeckte Eingeständnis, dass die bereits existierenden Interpretationen des Prometheus-Mythos eine bündige lexikalische Zusammenfassung kaum mehr ermöglichten. So hätte es der Aufforderung, sich eine eigene Deutung zu machen, gewiss nicht bedurft. "Prometheus" war im 18. Jahrhundert schon einer der meistgebrauchten und meistzitierten Mythen, wenn es um die allegorische oder symbolische Einkleidung der nicht nur eigenen Kulturgeschichte ging.

Seither hat sich das Problem eher noch verschärft. "Prometheus" war nicht nur von alters her "der Name für den Mythos der Kultur in der westlichen Welt", wie die Herausgeber des vorliegenden Bands konstatieren, sondern erlangte in Zeiten der Selbstreflexion derselben Kultur erneut publizistische Relevanz. Dafür spricht nicht nur die Publikation der Anthologie "Mythos Prometheus" mit Primärtexten von Hesiod bis René Char im Reclam-Verlag 1995 (vgl. https://literaturkritik.de/txt/2000-12-0132.html), sondern auch der hier rezensierte Sammelband mit 14 Beiträgen zu einer "Prometheus"-Tagung in Chemnitz.

Günter Peters reflektiert in einem einleitenden Beitrag die Darstellungsform "Mythos" überhaupt und dessen "überraschende Präsenz im nachmythischen Alltag" der technisierten Moderne. Bis heute erfolgreich ist der Prometheus-Mythos vor allem, weil er die menschliche Existenz "im Feuer des Technischen" gründe, so dass er gültig blieb, selbst als sein "schöpfungsästhetisches Potential erschöpft war". Denn das war er traditionell zumeist: die Möglichkeit des Künstlers, seine spezielle Existenz in der Condition humaine zu spiegeln. Schöpfer und Rebell, Erlöser und Märtyrer, Konstrukteur, Gaukler und Komödiant - alles Mögliche konnte Prometheus werden, weil dieser Mythos im Gegensatz zu vielen anderen sich durch die Fähigkeit auszeichnet, seine Elemente immer wieder vollständig neu zu gruppieren. Die weiteren Studien des Bandes verfolgen die Kulturgeschichte des Prometheus-Mythos von seinen antiken Ursprüngen bis in die virtuelle Gegenwart des World Wide Webs hinein.

Dieter Bremer rekonstruiert die ursprüngliche Prägung des Kultur-Mythos bei Hesiod, Aischylos und Platon. Robert Bees untersucht in den gleichen Texten die Indienstnahme des Mythos für die geschichtsphilosophischen Vorstellungen über Fortschritt (Aischylos) bzw. Verfall (Hesiod) der Menschheit. Emil Anghern beleuchtet den uneindeutigen Status menschlicher Selbstbehauptung bzw. Subjektwerdung in der Erzählung von Prometheus' Bestrafung.

Hannelore Schlaffer steuert einen Beitrag zur Theorie der Metapher bei, welche auf der Grenzscheide zwischen Körper- und Sprachgebärde angesiedelt sei und vermittels mythischer Rationalisierung eines archaischen Totemismus gewonnen werde. Was das mit Prometheus zu tun hat, müssen die Leser selbst erraten. Renate Böschenstein untersucht Goethes dramatisches Prometheus-Fragment in seinen intertextuellen Bezügen; ergänzend verteidigt David Wellbery Goethes Prometheus-Ode als Überblendung individueller Subjektwerdung und menschheitlicher Geschichte im Akt der Anklage. Edgar Pankow stellt Balzacs Versuch vor, den Prometheus-Mythos innerhalb seiner "Menschlichen Komödie" ("La Chef-d'œuvre inconnu") zu einem ambivalenten Ende zu bringen. Dagegen weist Peter Pütz auf, dass Prometheus für Nietzsche einen Wert besaß, der den aller anderen mythischen Figuren weit übertraf, und topologisch den alten Gegensatz von "Athen vs. Jerusalem" unter den Prämissen "arisch vs. semitisch" zu reformulieren half.

Wie Bettina Vaupel in ihrem Beitrag deutlich macht, geriet Prometheus im 20. Jahrhundert endgültig ins "Kreuzfeuer der Ideologien", was sie anhand eines Vergleiches der Skulpturen und Bilder von Arno Breker und Josef Thorak bis Gerhard Marcks und Wolfgang Mattheuer dokumentiert. Volker Riedel zeigt, dass in der DDR nicht mehr viel übrig blieb von der Verehrung, die noch Karl Marx für Prometheus hegte, und stattdessen kritische Bilder vorherrschten. Thomas Koebner betont den Aspekt des Menschenbildners und untersucht die Gestaltung von "künstlichen Menschen" in diversen Filmen von "Metropolis" über verschiedene "Frankenstein"-Streifen bis hin zu "Blade Runner". Lydia Jeschke schreibt über Luigi Nonos musikalische Adaption des Themas im "Prometeo", in der der mythische Held gar nicht selbst in Erscheinung tritt, sondern die Entstehung der Kultur und das leidensreiche menschliche Leben fern von den Göttern zum Thema wird. Den Abschluss macht Eberhard Lämmert mit Reflexionen zur Rolle der Künste in der wahrscheinlich schon angebrochenen Zukunft, in der Menschen nur noch über technische Apparate in einem Cyberspace miteinander kommunizieren und in der der Prometheus-Mythos seine konkrete Kenntlichkeit verloren hat, so dass sein Name zum keineswegs eindeutigen Zeichen für jede Art technologischen Aufbruchs wurde.

Insgesamt bietet der Band also einen breit gefächerten Blick auf die Rezeption des Prometheus-Mythos in der westlichen Kulturgeschichte. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Untersuchung des Stellenwerts, den mythische Figuration, auch über Prometheus hinaus, in der Moderne hat. Wie stets bei solchen Unternehmungen kann man die methodische Inhomogenität des Bandes als Mangel bedauern oder als Offenheit begrüßen. Thematisch wird man das Ignorieren romantischer Deutungen und fast der gesamten französischen Tradition beklagen dürfen. Aber auch so eröffnen die Beiträge zahlreiche interessante, mitunter auch neue Perspektiven auf einen Mythos, der wie kein anderer immer währende Aktualität beanspruchen konnte und kann, weil er mit der technologischen Geschichte der Menschheit untrennbar verbunden scheint. Alfred Döblin zeichnete in den 30er Jahren dieses Jahrhunderts das Bild des Menschen als prometheische Gattung, deren Entwicklungsziel die "völlige Konfrontierung mit der Natur" sei: "Vom Geist des Prometheus getrieben, werden die anfänglichen Nomaden, Sammler und Jäger, die Ackerbauer und Viehzüchter immer mehr danach verlangen, nur von sich abzuhängen, von den selbständig gefertigten Produkten zu leben, die Erde nach ihren Bedürfnissen umzuschaffen. Sie werden die feindlichen Tiere ausrotten, den Einfluß der Elemente abdämmen, sich gesellschaftlich fester und fester zusammenschließen und zuletzt dazu gelangen an sich selbst und ihren Gruppen biologische Veränderungen vorzunehmen, wobei sie vielleicht eines Tages die Grenzen unserer Art überschreiten".

Titelbild

Edgar Pankow / Günter Peters (Hg.): Prometheus. Mythos der Kultur.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
248 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 377053381X

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