Genaue Exerzitien des Auges

Schreib-Meisterschaft in Gedichten Philipp Luidls

Von Pia-Elisabeth LeuschnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pia-Elisabeth Leuschner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diamanten wachsen langsam, aber zu struktureller Makellosigkeit. Sie sind durchsichtig und zählen zum Unverwüstlichsten, das wir kennen. Wenn sie entsprechend geschliffen werden, wirken sie als Linsen, die unsere Sicht schärfen. Philipp Luidls Gedichte sind solche Diamanten, bleibend wertvoll im Panorama der deutschen Gegenwartslyrik.

Der schmale Gedichtband des Maro-Verlages ist Philipp Luidls erste Lyrikveröffentlichung. Luidl ist gelernter Typograph und Dozent an der Akademie für Grafische Gewerbe sowie an der Münchener Fachschule für Kommunikationsdesign. Wie wenige hat er dabei die psychologischen und historischen Grundlagen der Schrift reflektiert. Sein Buch "Schrift: die Zerstörung der Nacht" (1993) thematisiert kulturpsychologische Zusammenhänge von Schriftlauf und mond-inspirierter Intuitivität des Matriarchats oder rationalistischer Sonnenhörigkeit des Patriarchats.

Jedes Gedicht umfasst nur wenige Verse, sprachgewordenes Destillat eines lyrischen Momenteindrucks. Dabei sind diese Gedichte alles andere als hermetisch. Die jeweilige Wahrnehmung und Reflexion wird nur restlos in ihrem essentiellen Ausdruck aufgehoben - dass das Druckbild auf Interpunktion und Großschreibung verzichtet, verstärkt nur die Wirkung lapidarer Prägnanz. Etwa in "Herbstlaub": "Da ist kein wort / zuviel gesagt // Den himmel ausgegraben / die wege zugeschüttet // Mehr war uns / nicht versprochen." Philipp Luidl lebt in Diessen am Ammersee. Erfahrungshintergrund des Gedichtes sind somit - ohne unzulässige Vermutungen - jene Tage des bayerischen Herbsts, in denen dem Betrachter das goldgewordene Laub zu Füßen liegt, während sich darüber ein azurblauer Himmel erschließt. Für diese Erfahrung ,ist kein Wort zuviel gesagt'. Das Gedicht umschreibt sie in zwei Zeilen, in denen auch kein Wort zuviel ist: der Blick findet den azurnen Himmel vom (sommers verstellenden) Laub ausgegraben, dafür die Wege rotgolden zugeschüttet. Die Folgerung: "Mehr war uns nicht versprochen" ist hiernach keine Resignation, kein Sich-Abfinden mit der Erkenntnis, dass dem Menschen ,nur' herbstliches Sterben versprochen war, sondern ein Ausdruck der Fülle: mehr als diese tiefe Stillung aller Sinne durften wir nie erwarten.

Herbst und Erfüllung, Gräber und ihre Bewältigung, Winter, kreatürliche Bedürftigkeit und immer wieder das Alter und seine Befriedung sind die Themen, um die Luidls lyrische Eindringlichkeit kreist. Mit unnachgiebiger Geduld lässt er sich - in Zeiten hektischer Verstädterung - auf die Natur ein, ringt beharrlich-unprätentiös um die Exaktheit seiner Bilder wider jeden gefühlsseligen Wortreichtum des Wahrnehmungssubjekts. Meist ist sein ,Ich' nur implizit präsent, als den Gedichten eingeschriebene Sehweise. Wo es explizit auftritt, steht es für ein bewusst-reflektierendes Bezugnehmen auf eine geschilderte Situation oder eine Aktion, die aus einem Sich-Ein-Verstehen in sie und mit ihr hervorgeht ("Am See"): "Das ufer / zugeschneit / von möven // Mit einem / stück brot / gehe ich / schneeräumen." Eine weiße Mövenschar bedeckt das Ufer; der Sehende denkt den Winter und Hunger der Tiere, geht als Ich sie füttern; da sie nach dem Brot streben, wird seitab Uferboden sichtbar: für Luidl zwölf Worte, Kalligraphie einer Erfahrung.

Luidl ist Typograph. Er weiß, was es bedeutet ,Schreibmeister' zu sein. "Schreibmeister sein / wie du herr einer bist / dem dünnes gras / die hand nicht zittern lässt / und dem der wind / die tinte alter eichen trocknet // [...] Wie schreibst du herr / dass dir die farbe flüssig bleibt / durchs jahr / und dass ein punkt / ein blesshuhn wird im nebel?" Das Wort "herr" oder ein vergleichbarer Gebetsgestus sind selten in Luidls Lyrik - darum umso bezeichnender. Schreibmeister ist derjenige, dem die Facetten des Wirklichen als (bald feine, bald mächtige, aber immer wachsend lebendige) Zeichen leicht von der Hand gehen bzw. dem sich jedes kleinste Schriftdetail aufs natürlichste zu seiner Bedeutung belebt, so "dass ein punkt ein blesshuhn wird im nebel." ,Schreibmeister sein' heißt, das Wirkliche schreiben - lakonisch, in seiner Evidenz. Luidl schleift seine Gedichte zu Linsen, die uns diese Evidenz zeigen; sie sind ein in die Schriftform kristallisiertes Sehen. Wie Michael Krüger im Nachwort des Bandes schreibt: "Genauere Exerzitien des Auges gibt es in der deutschen Poesie dieser Zeit nicht."

Titelbild

Philipp Luidl: Gedichte.
Maro Verlag, Augsburg 2000.
62 Seiten, 12,30 EUR.
ISBN-10: 3875122518

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