Zeichen des Numinosen

Patrick Roths Geschichten "Die Nacht der Zeitlosen"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Autoren tun Beliebiges, doch ist es ihre Kunst, uns davon zu überzeugen, dass das Ergebnis ihrer Arbeit nicht beliebig sei. Sie schlagen aus dem Bedeutungslosen Bedeutung, ähnlich, wie Prometheus Funken aus dem Felsen schlug und damit zur Symbolgestalt schöpferischer Produktivität wurde.

Patrick Roth zeigt in seinem Erzählband "Die Nacht der Zeitlosen", wie Literatur es "macht", uns für Dinge zu interessieren, die uns gar nichts angehen, wie sie das Alltägliche als schöne Kunst betrachtet und Geschichten abschöpft.

Der Ich-Erzähler der mittleren der fünf Erzählungen erwirbt bei einem Garage Sale einen alten, grob geschnitzten Stock, ein wertloses Requisit, könnte man meinen, doch für den Verkäufer - wie auch bald für den Käufer - hat der Stecken einen spezifischen Wert. Mit 25 Dollar ist er unter all dem angebotenen Trödel denn auch vergleichsweise hochpreisig ausgezeichnet. Der Grund: der Stecken soll als "Stab Mose" Requisit in einem Historienschinken der 50er Jahre gewesen sein: Chuck Heston sei in "Die zehn Gebote" an diesem Stab durch die Filmkulisse marschiert.

"Der Stab war eine gelungene Anmaßung", heißt es weiter: durch seine "Biographie" - ob wahr oder erfunden - ist der Stecken plötzlich wertvoll, ist der Cineast bereit, dafür mehr Geld hinzulegen, als durch den materialen Gegenwert gerechtfertigt wäre.

Hat nun der Stab, im Film Repräsentant des biblischen Mose-Stabes, irgendeine Bedeutung? Außer, dass er - eine von fünf Kopien - aus dem Fundus der Studio-Requisite stammt, wohl nicht. Aber Patrick Roth setzt ihn explizit als Zeichen ein, und dadurch wird der Stecken diese besondere Bedeutung für den Protagonisten bekommen. Denn in einer verheerenden Feuernacht weist der Stab ihm und seiner Freundin Erin den Weg aus den Flammen: "Niemand fragte, wie wir entkommen waren", heißt es am Schluss - durch ein Stück Holz nämlich, halb wertlose Requisite, halb Zauberstab, Zeichen des Numinosen.

Ein anderes Beispiel ist der Erzählung "Die Nacht der Zeitlosen" entnommen. Bei einer Party, auf der zufällig Darsteller aus Oliver Stones Kennedy-Film "JFK" zusammentreffen, begegnet der Erzähler einer jungen Frau mit himmelblauen Handschuhen. Ein beliebiges Accessoire, könnte man sagen, doch diese Handschuhe sind ein Äqui-Zeichen, ebenso wie der Name der Frau: Jackie Ballard. Jackie hat, als sie bei einer Nachstellung der Todesfahrt von Dallas die Rolle der Jackie Kennedy übernimmt, einen Augenblick lang das Gefühl, dass sie das Attentat abwenden, dass sie den Präsidenten retten könne. Schützend wirft sie sich über den pyrotechnisch präparierten Präsidentendarsteller im offenen Cabriolet neben sich - und wird durch die Sprengkörper an den Armen verletzt. Die Statistin handelt mit dem Wissen, das Jackie Kennedy damals gar nicht haben konnte, sie vergisst nicht, dass sie nur eine Rolle spielt, und dennoch glaubt sie einen Augenblick lang, das vor langer Zeit Geschehene noch einmal abwenden zu können.

Die Handschuhe, zugleich ihr Erkennungszeichen auf der Party, sind ferner eines der Attribute der stets elegant gekleideten, "echten" Jackie Kennedy. Schon als Teenager hat sich Jackie Ballard mit der First Lady identifiziert, hat sich beschäftigt mit ihr und sich gekleidet wie sie. Aus dem freiwilligen Kleidungsverhalten wurde, so steht zu vermuten, ein erzwungenes: die hellblauen Handschuhe verbergen ihre Verletzungen, die sie sich bei den Dreharbeiten zugezogen hat.

Die fünf Texte dieses Buches sind drei Teilen zugeordnet: "sundown" ("Mr. Coleman erwacht"), "night" ("Das verräterische Herz", "Der Stab Moses", "Die Nacht der Zeitlosen") und "sunrise" ("Die Frau, die den Dieb erschoss"). Jede der fünf Erzählungen handelt auch vom Film. In der Poe-Erzählung ("Das verräterische Herz") beispielsweise lebt der 15-jährige Protagonist förmlich in der Poe-Welt, die ihm aus den Übersetzungen und den Verfilmungen vertraut ist, und nun möchte er sich endlich auch die Originaltexte erarbeiten - für die freilich sein Schulenglisch nicht reicht. Und so beschließt er, sich helfen zu lassen. Gleich hat er sich in seine Englisch-Tutorin verkuckt, Gladys Templeton, seine "Vorleserin", und fortan liegt prickelnder Eros in der Luft - zumindest aus seiner Perspektive. "Oh, you're totally wet", heißt es an einer Stelle, doch das sagt sie zu ihm, der er durch den Regen kam.

Alle fünf deutsch-amerikanischen Geschichten kreisen um eine besondere Nacht, eine Nacht auch im übertragenen Sinne: das Datum des 16. Januar 1994, als in Los Angeles die Erde bebte und über dem Schriftsteller Partrick Roth sein Bücherregal zusammenbrach. Damals ging die Welt unter, und dennoch die Sonne wieder auf, es war eine Nacht für Mirakel, wie es in der letzten Geschichte, der Geschichte einer fast wundersamen Rettung, erzählt wird: "Lucia Alvarez wurde lebend geborgen, ihre Hand am Kind, das noch schlief."

Titelbild

Patrick Roth: Die Nacht der Zeitlosen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
147 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3518412159

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch