Alles strömt

"Duddits/Dreamcatcher" - eine Apokalypse von Stephen King

Von Fritz GöttlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Fritz Göttler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Eins. Zwei. Drei. Tut uns bitte nichts", sagen die Stimmen. "Fünf. Sieben. Elf. Bitte! Ne nous blessez pas! Ne nous faites pas mal, sommes sans défense! Bitte! Um der Liebe Gottes willen! Wir sind wehrlos!"

Es sind die Stimmen von Bugs Bunny oder Jack Webb, Jimmy Carter oder Bill Clinton, Alfred Hitchcock oder Brad Pitt und von vielen anderen, auch eine Frauenstimme, die sich sehr nach Margaret Thatcher anhört. "Dreizehn. Siebzehn. Neunzehn. Wir haben nichts Ansteckendes", sagen die Stimmen, "il n'y a pas d'infection ici."

Es ist eine merkwürdige Kakophonie, die Amerika bedroht, im November des Jahres 2001. Ein fremdes Raumschiff ist (not-) gelandet in den Wäldern von Maine, dort, wo das Jagen noch ein Teil der Jungen-Erziehung bedeutet, und merkwürdige Wesen ohne Körper, ohne eine klar definierte Identität versuchen, in der Wildnis um den Ort Jefferson Tract zu überleben. Indem sie die Tiere und die Menschen dort parasitär übernehmen, als rötliche Flechte auf ihren Körpern, als iltisähnliche Wesen - "Kackwiesel" - sich einnisten in ihren Gedärmen und ihnen von innen schließlich den Arsch aufreißen. Mit zusammengeklaubten Stimmen, aus Radio und Fernsehen, und einer Serie Primzahlen appellieren sie an die Menschen. "Dreiundzwanzig. Siebenundzwanzig. Neunundzwanzig. Wir sterben. On se meurt. On crève. Wir kratzen ab."

Ripley-Pilz nennen die Wissenschaftler das gefährliche Gewächs, dem nicht zu trauen ist, nach der "knallharten Braut" im Film "Alien". Und nur ein Wahnsinniger kann Amerika retten vor dieser Infiltration, ein Geistesbruder der Generäle Patton oder Buck Turgidson (aus "Dr. Strangelove"): "Das sind keine hilflosen kleinen ETs, die nur darauf warten, dass man ihnen eine Telefonkarte der New England Tel gibt, damit sie nach Hause telefonieren können, sie sind eine Krankheit. Sie sind Krebs, gelobt sei der Herr, und wir, Jungs, sind eine große, hoch dosierte, radioaktive Chemotherapie. Hört ihr mich, Jungs?" Abraham Kurtz nennt sich dieser Mann, der sich da zum neuen Herkules erklärt - ein fürchterlicher Name, der schlimmste vielleicht, den das vorige Jahrhundert zu bieten hat -, und er hat alles mitgemacht, von Vietnam bis Bosnien.

"Krebs" wollte Stephen King dieses Buch ursprünglich nennen - das von einem "close encounter" der besonders brutalen Art erzählt. Wie immer fusioniert bei King der Horror mit der Science Fiction, und die Ängste von ganz draußen erweisen sich als Vibrationen, die im Innern des Körpers Angstgefühle auslösen. Wie immer bei King geht das Vegetative eine enge Symbiose ein mit dem Fleischlichen, den Körpern - "Invasion of the Body Snatchers" ist der Film, der das Buch auf jeder Seite zu inspirieren scheint. Aber dann ist es auch eine ganz persönliche Therapie - King verarbeitet jenen Verkehrsunfall, der ihm im Juni 1999 ein schweres Trauma bescherte. Als er auf einer Landstraße in der Nähe seines Hauses angefahren wurde, mit Knochenbrüchen und inneren Verletzungen ins Krankenhaus kam, mehrere Operationen über sich ergehen lassen musste. Noch exzessiver als sonst sind deshalb die Momente der körperlichen Pein, die Orgien von Blut, Schweiß und Tränen - und anderer Körperflüssigkeiten. Noch quälender sind die Beschreibungen der Schizophrenie, wenn das eigene Ich zum Schauplatz eines Psycho-Dramas wird, wenn ein Fremder von draußen dieses Terrain zu besetzen droht. Eine Grauzone der Existenz - die Grauen nennen sich die Aliens aus dem All, als Mr. Gray geistert einer von ihnen durchs Geschehen.

Eine private Apokalypse also: "Henry fing an, ohnmächtig zu stöhnen, als die Schwärze näher kam. Es schien wie eine Sonnenfinsternis auf seinem Geist zu lasten, alle Gedanken zu verdunkeln und durch schreckliche Bilder zu ersetzen: Milch auf den Knien seines Vaters, der entsetzte Blick Barry Newmans, dürre Leiber und starrende Augen hinter Stacheldraht, ausgepeitschte Frauen und gehenkte Männer. Für einen Moment schien sein Weltverständnis wie eine umgedrehte Hosentasche von innen nach außen gekehrt, und ihm wurde klar, dass 'alles' infiziert war oder sich infizieren ließ. 'Alles'. Seine Gründe, einen Selbstmord zu erwägen, waren lächerlich angesichts dessen, was da auf ihn zuraste. Er presste seinen Mund an den Baumstamm, um sich am Schreien zu hindern, spürte, wie seine Lippen einen Kussmund in das weiche Moos prägten, tief hinein, bis dort, wo es feucht war und nach Borke schmeckte. In diesem Moment rauschte das Schneemobil vorbei, und Henry erkannte die Gestalt darauf, die Person, von der die rotschwarze Wolke ausging, die Henrys Kopf nun wie ein Fieber erfüllte. Was auch immer er an Schrecklichem gefühlt hatte - es war geschehen. Einer seiner Freunde war tot, einer lag im Sterben, und einer, Gott stehe ihm bei, war ein Filmstar geworden."

Sie hat durchaus bizarre, komische Momente, diese Chronik der Schmerzen und der Zerrissenheit, zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Die Uhren laufen rückwärts. - "Selbe Scheiße, anderer Tag" - ist das Motto der vier Jungen aus Derry, die neben Kurtz antreten zur Rettung der Welt. Die Kansas Street Gang, die roten Korsaren aus der dritten, vierten Klasse: Peter und Henry und Gary Jones, genannt Jonesy, und Joe Clarendon, der der Biber ist. Ein fünfter schweißt sie zur überlebensfähigen Gruppe zusammen, der "zurückgebliebene" Duddits, der allein verloren wäre - durch sein Downsyndrom, durch seine Leukämie. Sie sind Bestandteil der Welttapete, ein "Traumfänger" hält ihr Dasein zusammen - so heißen die indianischen Webstücke, die aus einzelnen Erlebnissen ein Leben machen. "Über Duddits haben wir uns definiert. Die Zeit mit ihm war die beste."

Unaufhörlich hat Stephen King in den letzten Jahrzehnten die Geschichte seiner Generation erzählt, die nicht unbedingt eine verlorene sein will, die geprägt ist von den Sechzigern, von der gewaltigsten Veränderung, die Amerika erfahren musste, physisch, psychisch, intellektuell - Vietnam, die Drogen, Sympathie mit dem Teufel, der Rock.

Der Fluss der Zeit geht durch diese Bücher, und man spürt, wie seine Strömung die einzelnen Identitäten auflösen muss. Der Roman ist mit dem Waterman-Patronen-Füller geschrieben, schon dadurch hat er eine starke Beziehung zum Flüssigen - "das hat mich der Sprache so nahe gebracht, wie ich es seit Jahren nicht mehr war. Eines Nachts, während eines Stromausfalls, habe ich sogar bei Kerzenlicht geschrieben." King leiht allen andern seine Stimme, so radikal, dass er als Autor fast verschwindet, wie Joyce und Proust, Céline und Faulkner. Bei keinem anderen modernen Autor hat man so intensiv das Gefühl, dass Amerika ein Land der Transzendenz ist: Wir sind die andern, die andern sind wir. Das ganze Land spricht in diesem Buch, ein unaufhörlicher, überpersönlicher "stream of consciousness". Wir sind "an eine Stromleitung angeschlossen, die statt Elektrizität Stimmen führt."

Titelbild

Stephen King: Duddits - Dreamcatcher. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Jochen Schwarzer.
Ullstein Verlag, Berlin 2001.
816 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3550083297

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