Die Selbstheilung der Frau zum Arzt und Schriftsteller

Doris Ruhe hat einen Band mit Texten, Theorien und Positionen zur Geschlechterdifferenz herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Laufe der 90er Jahre haben sich in verschiedenen Universitäten Deutschlands Zentren für Gender Studien konstituiert, darunter das "Interdisziplinäre Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien" an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald. Die Ergebnisse einer von ihm durchgeführten Veranstaltungsreihe liegen nun in Form eines von Doris Ruhe herausgegebenen Sammelbandes mit dem Titel "Geschlechterdifferenz - Texte, Theorien, Positionen" vor. WissenschaftlerInnen aus Philosophie, Soziologie, der Geschichts- und Literaturwissenschaft sowie der Architekturgeschichte melden sich zu Wort.

Den umfangreichsten Beitrag steuert die Wiener Philosophin Cornelia Klinger bei. Der Titel ihres Textes "Für den Staat ist das Weib die Nacht" ist einem nachgelassenen Fragment Nietzsches entliehen. Ebenso wie die Texte des 'Philosophen mit dem Hammer' zeichnet sich auch Klingers Aufsatz nicht immer durch argumentative und strukturelle Klarheit aus.

Zunächst überrascht sie damit, dass sie sowohl Nietzsche als auch Rousseau gegen ihren "ganz besonders schlechten Ruf in Sachen Misogynie" in Schutz nimmt und behauptet, beide hätten "lediglich ausgesprochen", was ihre jeweiligen Zeitgenossen "als kulturelle Selbstverständlichkeiten vorausgesetzt", jedoch nicht "ernsthaft reflektiert" hätten. Zumindest die Wirkungsmächtigkeit von Rousseaus, an Sophie ausbuchstabiertem Erziehungskonzept dürfte die Autorin damit unterschätzen. Sowohl Nietzsche als auch Rousseau, so fährt Klinger fort, seien nicht dafür zu tadeln, "die Regeln der Geschlechterordnung ihrer Zeit" benannt zu haben. Im Gegenteil sei es ihnen als "Verdienst" anzurechnen, sie thematisiert und damit "tendenziell in Unordnung" gebracht zu haben. Kurzum: nur einer "oberflächlichen Betrachtung" könne "vieles", was Rousseau und Nietzsche geschrieben haben "abstoßend misogyn erscheinen". Schauen wir jedoch Nietzsches titelstiftendes Textfragment genauer an, so lesen wir schon wenige Zeilen später, "das Weib" habe "zu gebären" und sei dazu da, "als Pflanze zu leben". In einem der unmittelbar darauf folgenden Textfragmente legt Nietzsche nach und erklärt "das Weib" kurz und bündig zur "Quelle allen Übels". Auch in den publizierten Schriften lassen seine Ausführungen an Klarheit nichts zu wünschen übrig. "Dem ganzen europäischen Feminismus", so betont er etwa in der "Morgenröthe", sei er "von Grund aus [...] Feind".

Genauer - und kritischer - als Nietzsche und Rousseau wendet sich Klinger Marx und Engels zu. Zwar hätten sie die "Wirkungsweise" und den "ideologischen Charakter" der Trennung von Natur und Gesellschaft durchschaut. In ihren Texten fänden sich gelegentlich sogar "Aussagen von verblüffender Deutlichkeit, in denen das Geschlechterverhältnis [...] und die Dominanz des Mannes ausdrücklich als Ausbeutung und (Klassen-)Herrschaft benannt" werden. Doch würden diese Erkenntnisse nicht in die Marx(isti)sche Theorie integriert. Vielmehr werde die Geschlechterordnung anderen Analysekategorien untergeordnet und spiele in den "Gedanken- und Argumentationsgängen" keine Rolle. Obwohl die Gesellschaftstheorie der Gründerväter des Marxismus "gute Voraussetzungen" mitbringe, um die Geschlechterordnung "zum Gegenstand der Analyse und zum Bestandteil einer umfassenden Gesellschaftstheorie zu machen", geschehe eben dies nicht. Vielmehr scheine sie letztlich doch "naturwüchsig und natürlich." Anders als bei ihren Ausführungen zum Genfer Aufklärer und dem europäischen Nihilisten mag man ihr hier gerne zustimmen.

Die Marx(isti)sche Theorie steht bei Klinger als paradigmatischer Beleg für ihre mit einigem Recht vertretene These, dass die Benachteiligungen von Frauen mehr oder weniger unmittelbar "aus dem Ausschluß des Themenkomplexes Geschlechterordnung von der gesellschaftlichen, politischen und historischen Agenda resultieren". Hieran schließt Klinger die Forderung nach einer "'kopernikanischen Wende' in der Gesellschaftstheorie" an. Doch werden die durch den pathetischen Topos geweckten Erwartungen enttäuscht. Wie Kopernikus gezeigt habe, dass nicht die Sonne sich um die Erde dreht, so Klinger, gelte es heute, sich darüber klar zu werden, dass "nicht die Natur (oder ein Gott) [...] die Geschlechterordnung der Gesellschaft" determiniere, sondern es die Gesellschaft sei, die sich, "in ein Verhältnis zur Transzendenz" setze und sich eine "Naturordnung" gebe. Das ist zwar richtig, doch bei weitem nicht so neu und auch nicht mehr so umstürzlerisch, wie es das heliozentrische Weltbild für Kopernikus' Zeitgenossen gewesen war. Gleiches gilt für die Erkenntnis, dass "binäre Rasterungen und duale Einteilungen [...] den Zwecken der symbolischen Ordnungsstiftung und der Kontingenzbewältigung" dienen. Neu ist allerdings der von Klinger für diesen Sachverhalt geprägte Begriff: "Kompartimentierung".

Am Ende ihrer Ausführungen prognostiziert die Autorin indirekt das baldige Ende der binären Ordnungsschemata: "Kurz vor dem Ende der langen Karriere dieses immens erfolgreichen Konzepts zur Hierarchiebildung zwischen den Geschlechtern erfährt die Dualismenbildung von Gesellschaft und Natur, Öffentlichkeit und Privatheit, Männlichkeit und Weiblichkeit die absurdesten Verzerrungen."

Hinterlässt Klingers Text einen ambivalenten Eindruck, so erweist sich der Beitrag des Männlichkeitsforschers Walter Erhart, der sich der Medizin- und Geschlechtergeschichte der literarischen Moderne widmet, als sehr lesenswert. Der Autor geht den Fragen nach, welche männlichen Ängste und Bedürfnisse im 19. Jahrhundert den "privaten wie professionellen Anstrengungen" zugrunde lagen, "das 'Rätsel Weib' medizinisch zu lösen". Erhart vermutet, dass insbesondere Literatur- und Kulturwissenschaft geeignet seien, sich dieser Frage zu nähern, denn in "medizinischen und geschlechtsspezifischen Beschreibungen und Erzählungen des 19. Jahrhunderts" gebe es eine "narrative Struktur", die noch "nach dem Ende der sexual science" andauerte. Gerade in ihnen könnten "die eigentlichen Agenten, Helden und Erzähler" sichtbar werden und zwar "nicht nur als neutrale Ich-Figuren oder teilnahmslose Ärzte" - sondern als Männer. Besonders hell werde die Geschlechtsspezifik im Verhältnis von meist weiblicher Patientin und meist männlichem Arzt beleuchtet, in dem die "medikalisierte Frau" dem "disziplinierten und disziplinierend heilenden Arzt" gegenüberstehe. Die geschlechtsspezifischen Charakteristika dieses Aufeinandertreffens stelle sich in literarischen Texten deutlicher dar als in medizinischen, so Erhart. Daher sei die Literaturwissenschaft aufgefordert, den Subtext einschlägiger Erzählungen auch unter diesem Aspekt zu entschlüsseln. Hiermit ist der Anspruch formuliert, mit dem der Autor sich drei literarischen Texten (Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre", Franziska zu Reventlows "Ellen Olestjerne" und Rainer Maria Rilkes "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge") zuwendet. Als vierter, nichtliterarischer Text tritt Bachofens "Mutterrecht" hinzu, den Erhart als eine "verborgene Geschichte der Männlichkeit des 19. Jahrhunderts" liest. Die "entscheidende Verschiebung der Geschlechter-Positionen", so lautet seine ebenso originelle wie erhellende These im Anschluss an die Lektüre Bachofens, sei "die Verlagerung des familialen Zentrums auf die mütterliche Intimität" gewesen. Im gleichen Maße, wie die Relevanz der "personalen väterlichen Macht" innerhalb der Gesellschaft "zugunsten funktionaler Systeme" abgenommen habe, sei in der Familie "die mütterliche und weibliche Macht der Häuslichkeit" gewachsen. Die Familie, dieser mütterliche "Schutzraum", habe so das Entstehen der Kindheit jenseits der gesellschaftlichen Zwänge der männlichen Moderne ermöglicht.

Interessanter aber noch - und sicher eines der Glanzlichter des gesamten Bandes - ist Erharts Interpretation der drei genannten literarischen Texte, insbesondere seine Lesart des Romans von Reventlow. Dieser erzähle die emanzipatorische Geschichte einer weiblichen Selbstheilung durch Besetzung der männlichen Position des Arztes und Schriftstellers. Ellen Olestjerne leidet an einem typisch 'weiblichen' Krankheitssyndrom, das von mit Fieber einhergehenden Unterleibsschmerzen, von Ohnmachtsanfällen, Wahnbildern und Todeswünschen geprägt ist. Sie heilt sich, so Erhart, indem sie die "väterliche und die männliche Rolle" übernimmt, "zunächst in dem durchaus banalen Sinn einer alleinerziehenden Mutter". Darüber hinaus jedoch auch, und das ist sehr viel wichtiger, in dem "gesamten metaphorischen Kontext der Geschlechter- und Medizingeschichte": Reventlows Protagonistin hat "nicht nur die männliche Heilkunst an sich selbst angewandt und sich - das kranke 'Ich' - buchstäblich mit dem Arzt vertauscht"; sie verwandelt sich zudem "von der Malerin in eine Schriftstellerin", reproduziert also nicht länger Natur, sondern schreibt Familiengeschichte. In all diesen Hinsichten besetzt Ellen Olestjerne 'Männlichkeit'. Das Ende des Romans, so lautet Erharts Schluss, feiert also nicht, wie oft angenommen wurde, den "Kult der Mütterlichkeit". Vielmehr hat Reventlows Protagonistin einen "Raum für sich selbst" errungen; sie besetzt "sogar den im 19. Jahrhundert symbolisch aufgeladenen väterlichen Ort, den Schreibtisch und damit die Schrift". Somit wird, resümiert Erhart, sowohl Medizingeschichte als auch Familien- und Geschlechtergeschichte "umgeschrieben" und Schwangerschaft in "spirituelle und buchstäbliche Autorschaft verwandelt".

Titelbild

Doris Ruhe (Hg.): Geschlechterdifferenz. Texte, Theorien. Positionen.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
212 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3826018664

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