Zärtlichkeit oder die Suche nach Tiefgang

Robert Cormiers Kriminalroman über menschliche Sehnsüchte

Von Dorothee ZollRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dorothee Zoll

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Suche nach zwischenmenschlicher Nähe und die gleichzeitige Ohnmacht im Umgang mit ihr verbindet die drei zunächst sehr unterschiedlich erscheinenden Protagonisten. Dem Leser wird jedoch eher früher als später klar, dass eben dieser Umstand sie ähnlicher macht, als man anfangs vermutet.

Lorelei, mit ihren fünfzehn Lebensjahren eigentlich noch ein Kind - allerdings eines "mit dem Körper einer Frau" - lebt mit ihrer Mutter "auf die Schnelle". Die mangelnde tief gehende Erfahrung mit Menschen lässt sie in ihrem Handeln zwischen nüchterner Berechnung und kindlichem Enthusiasmus schwanken.

Das Ergebnis ist eine ungewöhnlich selbstbewusste Form der Introvertiertheit, die etwas zutage bringt, das sie selbst als "Fixierungen" bezeichnet - Phasen der intensiven Suche nach zwischenmenschlichem Kontakt zu Personen, die eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie ausüben. Im aktuellen Fall gilt ihre gesamte Aufmerksamkeit dem gerade volljährigen und frisch aus der Jugendverwahranstalt entlassenen Serienmörder Eric Poole.

Sein Verhängnis ist die Faszination, die junge Mädchen auf ihn ausüben. Wenn er sie umbringt und ihre Körper berührt, findet er sich am Etappenziel seiner Suche nach Zärtlichkeit - erst wenn sie hilflos sind, ist er in der Lage, Vertrauen zu zeigen. Wie Lori ist auch er ein Einzelkind, aufgewachsen mit seiner Mutter und ihren diversen Liebhabern, ohne die Fähigkeit menschliche Nähe zu empfinden. Und wie sie hat auch er das Bedürfnis nach Zärtlichkeit, jedoch nach einer grotesken und morbiden Zärtlichkeit, die ihren Höhepunkt im Tod des Menschen findet, der ihm zu nahe kam.

Zwangsläufig führte seine exzentrische Einstellung zum Wert des Lebens seiner Mitmenschen zu Konflikten mit dem Gesetz, verkörpert durch den alternden Polizisten Proctor, der ihn drei Jahre zuvor, nach dem Mord an seiner Mutter und deren Liebhaber, ins Gefängnis gebracht hat und ihn auch nach seiner Entlassung noch für gefährlich hält. Daher verfolgt und beobachtet er Eric, und der Leser erfährt nebenbei von seinem einsamen und verbitterten Leben, dessen einziger Inhalt es ist, Eric Poole zur Strecke zu bringen. Pooles Suche nach Zärtlichkeit ist also gewissermaßen sinngebendes Element seines Lebens und gleichzeitig Kompensation seiner eigenen Angst vor dem Alleinsein und dem Bedürfnis nach Nähe.

Die Platzierung des Polizisten im Roman wirkt jedoch eher unmotiviert und bedeutungslos, obwohl es ihm letztlich gelingt, Poole wieder zu inhaftieren. Die Erklärung für diesen irritierenden Eindruck erschließt sich dem Leser jedoch, sobald er sich näher mit dem Widerspruch von Titel und Thema beschäftigt. Die Handlung lässt auf einen klassischen Kriminalroman schließen, doch bereits der Titel verweist auf die Metaebene und das eigentliche Anliegen des Autors: Die Sehnsucht nach Vertrauen, nach Flucht aus der Einsamkeit, auf der sich jeder einzelne der Protagonisten befindet.

Durch eine Thematisierung der Bedürfnisse der menschlichen Seele begibt sich der Autor allerdings auf eine weitaus anspruchsvollere Ebene, die ihm sowohl sprachlich als auch inhaltlich mehr abverlangt. Diesem Anspruch kann Robert Cormier auch nicht ansatzweise genügen. Er begnügt sich mit oberflächlichen Schilderungen von Beweggründen, Emotionen und Gedankengängen, bewegt sich von einem Allgemeinplatz zum nächsten, so dass man sein Fragmentarium nicht einmal als Anreiz für eigene Gedankenarbeit interpretieren kann - ganz davon abgesehen, dass das Wort "Interpretation" im Zusammenhang mit diesem Roman ohnehin nicht benutzt werden sollte. Sicher kann man sich bei Cormier jedoch darüber sein, dass er, soviel auch unkommentiert und unreflektiert bleibt, mit hundertprozentiger Sicherheit dort einen erklärenden Satz einschiebt, wo gedankliche Arbeit des Lesers gefragt wäre. Die Möglichkeit zwischen den Zeilen zu lesen, ein Umstand, der Literatur erst zu Literatur macht, ist nicht nur nicht gegeben, sondern offensichtlich gezielt unterbunden.

So ist "Zärtlichkeit" eine Erzählung geworden, die keinerlei Spuren hinterlässt und ihre Daseinsberechtigung ausschließlich der sporadischen Suche einiger von uns nach Kurzweil und Unterhaltsamkeit verdankt.

"Zärtlichkeit" befasst sich mit einem zeitlosen Thema: der Einsamkeit und ihren Spielarten. Inbesondere der enge Zusammenhang zwischen Einsamkeit, Schmerz und dem daraus resultierenden Bedürfnis nach Zärtlichkeit wird nicht nur dargelegt, sondern bis ins Groteske verzerrt.


Titelbild

Robert Cormier: Zärtlichkeit.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Cornelia Krutz-Arnold.
Fischer Sauerländer, Aarau / Frankfurt a. M. 2000.
222 Seiten, 15,30 EUR.
ISBN-10: 3794146433

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