Virtuelle Suche nach dem Sinn

Zwei verwandte Seelen geben sich via Internet neuen Lebensmut

Von Anke ZarnowRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anke Zarnow

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Keusch wie Eis" - das Hamlet-Zitat im Titel ist nicht der einzige Bezug, den Sylvia Brownrigg in ihrem Roman zu Shakespeare herzustellen versucht. Sie spannt den Bogen von Shakespeare bis zum Internet.

Dort nämlich lernen sich die weibliche Protagonistin Pi und ihr männliches Pendant JD kennen. JD hat irgendwann angefangen, seine Gedanken über das Leben und über die Möglichkeiten, es gewaltsam zu beenden, im Internet als "Nachtbuch" niederzuschreiben. Es ist eine Art öffentliches Tagebuch. In Pi findet es eine faszinierte Leserin. Und der gelingt es, den unerreichbaren Autor zur virtuellen Antwort auf ihre E-Mail zu bewegen. Es entwickelt sich ein durchaus reizvoller Briefwechsel zwischen den beiden über ihre Nöte und Ängste.

Pi, die "Philosophin", hat durch ein Feuer, das ihr Appartement zerstörte, alles verloren, auch ihre Dissertation. Allein das nackte Leben ist ihr geblieben, und mit diesem neuen Leben versucht sie klarzukommen. Der arbeitslose JD ist, wenn auch aus ganz anderen Gründen, in einer ähnlichen Lage. In seinem Wunsch nach einem Lebenshelfer versteht er sich als Hamlet, der nach Horatio sucht, dem Freund, dem Bruder, dem "Seelenverwandten", nach demjenigen, der ihm wieder Halt gibt im Leben, "nach diesem Jemand, der mich kennt".

So virtuell eine bloße E-mail-Beziehung bleiben muß, so konstruiert wirkt ihre literarische Ausarbeitung. So sind beispielweise beide Protagonisten in ihrer Sexualität nicht festgelegt, sind weder hetero- noch homosexuell, verstehen sich aber auch nicht als bisexuell. Auch die Familienverhältnisse beider weisen insofern Parallelen auf, als der jeweils gleichgeschlechtliche Elternteil als problematisch für den gesamten eigenen Lebenslauf beschrieben wird. Selbst der Tod von JD wirkt künstlich: der Verkehrsunfall erscheint als literarische Verlegenheitslösung. Daß er sich ausgerechnet im Rahmen von Rassenunruhen in Los Angeles ereignet, kann dies nicht verdecken.

Der äußere Rahmen, in den beide Lebenssituationen eingebettet sind, wird ausführlich und doch oberflächlich geschildert, der Reiz mancher Motive nicht ausgeschöpft. Wirklich interessant ist der Roman nur im direkten Mail-Kontakt zwischen den Protagonisten. Wie sich in dieser körperlosen Welt zwei Menschen sehr nahe kommen können, wird als vielschichtiger Prozeß geschildert.

Am Ende sind Pi und JD mehr als "Kameraden im Wort". Sie hören sich nicht nur gegenseitig zu, sie helfen sich gegenseitig ins Leben zurück. Oder mit Pis Worten: "Zum ersten Mal seit langer Zeit glaubte ich einen Menschen gefunden zu haben, der gewissermaßen in mir lesen konnte - wie umgekehrt ich in ihm." Daß just in diesem Moment zumindest JDs Leben abrupt endet, läßt allerdings vermuten, daß der Autorin zu der Geschichte nicht mehr eingefallen ist.

Titelbild

Sylvia Brownrigg: Keusch wie Eis.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 1999.
487 Seiten,
ISBN-10: 3828600794

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