Literatur aus Österreich

Gelesen in einer deutschen Perspektive

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Frage, ob es Kennzeichen gibt, die für die österreichische Literatur charakteristisch sind, hat mich nie sonderlich interessiert. Den Antworten darauf bin ich so misstrauisch begegnet wie völkerpsychologischen Stereotypen über den Nationalcharakter des Franzosen, des Italieners oder des Engländers. Als jemand, der 1968 an einer deutschen Universität zu studieren begann und durch eine Zeit geprägt wurde, in der viele aus der damals jungen Generation Stolz darauf entwickelten, nicht auf irgendwelche spezifisch deutschen Qualitäten stolz zu sein, ist mir das Denken in nationalen Kategorien und Differenzen bis heute fremd geblieben. Die Anstrengungen der Franzosen, ihre Sprache von fremden Einflüssen zu reinigen, finde ich ebenso komisch wie die US-Flagge vor den Wohnhäusern vieler Amerikaner.

Ein anderes, solidarisches Lachen hingegen wird in mir ausgelöst, wenn es in Thomas Bernhards "Heldenplatz" heißt "Das Österreichische frage ich mich immer / was ist es" und die Antwort lautet: "die Absurdität zur Potenz / es zieht uns an und stößt uns ab." Oder wenn der Protagonist in Bernhards "Auslöschung" bekennt: "Ich hasse diesen Staat, dachte ich, ich kann nicht anders, als diesen Staat hassen..." Ich lese solches nicht deshalb lachend oder mit Sympathie, weil es eigene Einschätzungen Österreichs (die vielleicht hassenswerten Seiten kenne ich zu wenig) bestätigt, sondern weil mir generell die Liebe zum eigenen Land erträglich scheint, wenn sie mit Skepsis oder sogar mit Hass verbunden ist.

Selbst eher aggressionsgehemmt, bewundere ich ohnehin die produktive Energie, die viele österreichische Autoren aus dem Hass schöpfen. Elfriede Jelinek bekennt: "der Impetus meines Schreibens ist einfach Wut und Zorn". Der Protagonist in Hans Leberts Roman "Die Wolfshaut" betrachtet geradezu zwanghaft immer wieder Fotografien von ihm verhassten Personen: "Ich bin süchtig geworden. Ich brauche diese Visagen. Sie nähren meinen Lebensinhalt: meinen Haß."

Robert Schindel thematisierte den "Haß auf die Bodenständigkeit" bei seinen Schriftstellerkollegen. In der neueren (Anti-)Heimatliteratur, die der Heimat mit extremen Gefühlsambivalenzen begegnet, bekunde sich "ein gesunder Haß" und zugleich eine "riesenhafte verdrängte Liebe". Dass die sich im Hass radikalisierende Entwertung anderer der Wiederherstellung eines beschädigten Selbstwertgefühls dient, hat schon Günther Anders gesehen, als er schrieb: "Durch den Haß auf den anderen [...] bestätigt man sein eigenes Dasein."

Ist der Hass als literarische Produktivkraft eine österreichische Spezialität? Das, wogegen er sich richtet, gibt es auch in der Bundesrepublik Deutschland: die Enge und die Beschränktheiten provinzieller, kirchlicher und familiärer Milieus, die Verdrängungen der nationalsozialistischen Vergangenheit oder neonazistische Tendenzen.

Zu allem, was als charakteristisch für die österreichische Literatur angeführt wird, fallen mir sofort Gegenbeispiele ein. Beim Stichwort Hass etwa die gewiss auch von Bernhard inspirierten Hasstiraden des Münchners Rainald Goetz. Wird da behauptet, die Literatur aus Österreich sei heillos negativistisch, kommen mir Peter Handkes dichtungstherapeutische Einübungen in das positive Denken in den Sinn. Heißt es, sie sei unpolitisch, denke ich an Josef Haslinger. Schreibt jemand, ein sozial engagierter Autor wie Heinrich Böll sei in Österreich kaum denkbar, halte ich ihm Johannes Mario Simmel entgegen. Oder verweist jemand gar auf den Alkoholismus in der österreichischen Literaturszene, so fällt mir gleich ein ganzes Dutzend von in Deutschland schreibenden Alkoholikern ein.

Aber das Krisengefühl, die Selbstreflexivität, die Experimentierfreude im Umgang mit der Sprache, das hintergründige Spiel mit Dia- und Soziolekten, das hohe Formbewusstsein - ist nicht wenigstens das alles ein Spezifikum jener österreichischen Literatur, die der deutschen (?) Gruppe 47 die Wiener Gruppe mit ihren so starken Wirkungen auf die europäische Neoavantgarde entgegenzusetzen hatte? Arno Schmidt, Helmut Heissenbüttel oder Ginka Steinwachs hätten dann freilich eine ganz "undeutsche" Literatur geschrieben.

Inzwischen ist mir allerdings bewusst, dass ich als Literaturkritiker und -wissenschaftler im Schreiben über "deutsche Literatur" immer wieder gegen Gebote politischer Korrektheit verstoßen habe. "Deutsche Literatur" war für mich selbstverständlich ein kürzerer, also ökonomischerer Ausdruck für "deutschsprachige Literatur". Und im Blick auf diese waren mir die gemeinsamen, grenzüberschreitenden Tendenzen und Entwicklungen stets wichtiger als irgendwelche regionalen oder nationalen Besonderheiten - ähnlich wie der 1994 erschienenen "Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart", die der deutsche Literaturwissenschaftler Wilfried Barner herausgegeben hat. Dass gegenüber dieser Literaturgeschichte irgendein "Kulturimperialismus-Verdacht" angebracht sei, weist das Vorwort mit Hinweisen auf die grenzüberschreitenden Verflechtungen des Buchmarktes, des Lesepublikums und der Massenmedien von sich.

Aber machen es sich Literaturwissenschaftler in Deutschland mit solchen Rechtfertigungen regionaler oder nationaler Undifferenziertheit nicht zu leicht? Etwas irritiert las ich 1991 einen Bericht in der "Süddeutschen Zeitung" (13./14. April), den ich mir aufgehoben habe. Unter dem Titel "Kalte Enteignung des nationalen Erbes?" schrieb hier jemand über die in Österreich verbreiteten Befürchtungen, "vom vereinten Deutschland kulturpolitisch vereinnahmt zu werden". Die kulturellen Interessen der DDR und Österreichs, so die Einschätzung des Verfassers, seien trotz konträrer Gesellschaftsverhältnisse vielfach identisch gewesen, "nämlich auf Abgrenzung ausgerichtet, auf die Formulierung einer ganz eigenständigen National- oder Staatskultur, für die der übergreifende deutsche Sprachraum fast etwas Bedrohliches hatte, statt gemeinsame Heimat zu sein." Die literaturwissenschaftliche Praxis in Österreich scheint dem vielfach zu entsprechen. Doch wie die Germanistik sich im 19. Jahrhundert zur Stärkung einer nationalen Identität herausgebildet hat und in dieser Funktion obsolet geworden ist, so nimmt sich eine deutschsprachige Literaturwissenschaft, die ihren Blick auf die Literatur aus Deutschland, aus der Schweiz oder eben aus Österreich eingrenzt, angesichts der ökonomischen und politischen Auflösung innereuropäischer Grenzen reichlich anachronistisch aus.

Andererseits ist seit den "Postmoderne"-Debatten der 80er Jahre das Misstrauen gegenüber allen kulturellen Vereinheitlichungs- und Universalisierungstendenzen zusammen mit der Sensibilität zugunsten einer dezentrierten Pluralität der Differenzen gewachsen. Pluralität und Differenz müssen sich in ihrem unbestreitbaren Wert freilich nicht unbedingt zwischen den Nationen behaupten, sondern innerhalb einer gemeinsamen Kultur. So war es bisher auch schon. Die für moderne Kulturen kennzeichnende Gleichzeitigkeit des Ungleichen ist in der Literatur aus Österreich so ausgeprägt wie in der aus Deutschland. Die Differenzen innerhalb der so überaus vielfältigen österreichischen Literatur, die mit der von manchem deutschen Kritiker hoch gelobten Grazer Gruppe so wenig identisch ist wie mit der gemäßigten Moderne des in Deutschland respektvoll beachteten (ehemaligen) Residenz Verlages, sind größer als irgendwelche imaginären Unterschiede zwischen der deutschen und der österreichischen Literatur.

Im Rahmen einer solchen Einschätzung, die selbst, dem Titel dieses Beitrages entsprechend, nur einer neben anderen Sichtweisen in Deutschland entspricht, bleibt weiterhin Platz für die in Deutschland von vielen Lesern geteilte Verwunderung und Bewunderung, dass ein kleines Land wie Österreich so überproportional viele bedeutende Autoren und Werke hervorbringt.

(In einer etwas anderen Fassung ist dieser Beitrag bereits in folgendem Buch zum Thema erschienen: Österreichische Literatur von außen. Personalbibliographie zur Rezeption der österreichischen Literatur in deutschen und schweizerischen Tages- und Wochenzeitungen 1975-1094. Zusammengestellt von Margareth Almberger und Monika Klein. Herausgegeben von Michael Klein. Eine Veröffentlichung des Innsbrucker Zeitungsarchivs im Eigenverlag. Innnsbruck 1996.)

Titelbild

Hans Lebert: Die Wolfshaut. Roman.
Europa Verlag, Hamburg 1993.
632 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3203511428

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart.
Verlag C.H.Beck, München 1994.
1116 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3406386601

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Robert Schindel: Gott schütze uns vor den guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis - Auskunftsbüro der Angst.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1995.
200 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 3518119583

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Titelbild

Thomas Bernhard: Heldenplatz.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1995.
168 Seiten, 7,10 EUR.
ISBN-10: 3518389742

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1996.
652 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3518390589

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