Nachrichten aus der Ferne

Ashraf Noor, Amir Eshel und Sven Kramer untersuchen Denkfiguren der deutsch-jüdischen Moderne vor und nach Auschwitz

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende des symbolträchtigen Buches Exodus erzählt Mose den Kindern Israels in seinen Abschiedsreden die Geschichte der Gesetzestafeln. Die ersten zerbrach Mose beim Anblick des Goldenen Kalbs, als er vom Berg Sinai hinabgestiegen war: "Tafeln beschrieben von ihren beiden Seiten, von hier und von hier waren sie beschrieben. Und die Tafeln waren das Werk Gottes, und die Schrift, Schrift Gottes, eingraviert in die Tafeln." (Ex. 32,15-16). Diese ersten Tafeln sind von Anbeginn an und so für ewig gebrochen, und Gott fordert von Mose, neue steinerne Tafeln anzufertigen: "den ersten gleich, und ich werde auf die Tafeln die Worte schreiben, welche auf den ersten Tafeln waren, die du gebrochen hast" (Ex. 43,1). Der Bruch mit dem ursprünglichen Text soll aber in der Erinnerung bewahrt bleiben durch die Aufbewahrung der gebrochenen Tafeln, als sichtbarer Bruch gemeinsam mit den zweiten in einem Schrein. Es scheint, als ob der Bruch eine Notwendigkeit für die Kontinuität der Tradition sei, ein Paradoxon, das die Geschichte des jüdischen Volkes von seinen frühen Anfängen an bis in die (Post-) Moderne hinein geprägt hat. Bereits im heiligen Text, für den Menschen die Grundlage und Voraussetzung für die Kontingenz der Welt, ist dieser Bruch buchstäblich eingeschrieben. Die Existenz der Welt und die des Menschen hängt nach jüdischer Vorstellung im Wesentlichen von der Existenz des Buches ab, das in seiner Ganzheit, aber auch in seiner ursprünglichen, jetzt gebrochenen Form vorliegt: Das Original ist nur als Bruchstück vorhanden, jede, wie auch immer vermittelte Kontinuität vermag den Bruch nicht zu überwinden. So werden der Bruch, aber auch die Kontinuität, die in dessen Zeichen steht, zu den prominentesten Denkfiguren jüdischen Kultur.

Das Judentum als verlorene Tradition, als Leerstelle, wird dann zum Ausgangspunkt vieler literarischer und philosophischer Schriften vor allem der deutsch-jüdischen Moderne. Diese Texte finden das Judentum in der Begegnung mit der Abwesenheit Gottes, des Gottes, der von Anfang an das Wort seiner Abwesenheit überließ und so dem Juden das Nichts nicht als Abgrund, sondern als Anwesenheit im Buch erlaubte. Das Problem der Kontinuität und des Status der Überlieferung, das Thema von Erfahrung und Zäsur schreibt sich in das Denken vieler jüdischer Intellektueller wie Edmund Husserl, Gustav Landauer, Leo Strauß, Walter Benjamin, Gershom Scholem, Hannah Arendt und Franz Kafka als die zentrale Figur ihrer Reflexion über die Moderne ein. Ihr Denken ist bestimmt von zentralen Tropen der Zäsur, des Schnitts, der Beschneidung, des Umwegs, der Verborgenheit und vor allem des Sprechens bei gleichzeitigem Schweigen. Es handelt sich dabei immer um die Verbindung zwischen den Ausdrucksformen religiöser Tradition und modernem Denken; um die Frage also, wie religiöses Gedankengut sich in säkularen Texten in verwandelter Form wiedererkennen lässt, eine Frage, die sicherlich zum Allgemeingut der Reflexion der Moderne gehört, in der die Erfahrung vieler deutscher Juden aber in gesteigerter Potenz hörbar wird. In den Denkfiguren dieser deutsch-jüdischen Moderne wird vor allem das problematisch, was jahrhundertelang als sakrosankt galt: die dynamische Hermeneutik zwischen der Offenbarung und der Tradition. Die Offenbarung, als schriftliche Lehre, fand ihren Vollzug in der Tradition, in der mündlichen Lehre, als Ausdruck der Interpretation der Offenbarung innerhalb der historischen Zeit. Jede Auslegung der Schrift galt in dieser Hinsicht als ein Hereinbrechen der Ewigkeit in die Zeit und damit als ein messianisches Moment, das die Zeit sprengt und sie für die Erlösung öffnet.

Viele Texte der Jahrhundertwende reflektieren aber gerade den Verlust an Tradition, die Unterbrechung der Überlieferung, suchen neue Wege des Diskurses und versuchen, indem sie den Spuren folgen, ein Nach-Denken und Nach-Dichten zu etablieren. Der latente Abbruch der Tradition wird dabei in Verbindung gesetzt zu allen möglichen Formen abgebrochener Identität. Les- und hörbar werden diese Erfahrungen etwa in Benjamins spätesten Aufzeichnungen "Über den Begriff der Geschichte", wo Figuren der Atomisierung, der Diskontinuität, der schockartigen Unterbrechung, der "Konjunktion" des unwillkürlichen und des willkürlichen Eingedenkens, der individuellen und der kollektiven Vergangenheit und nicht zuletzt der Zersplitterung die spätere Wirklichkeit der nationalsozialistischen Todeslager vorausahnen lassen. Der Zerfall des jüdischen Kollektivgedächtnisses in der Moderne trägt dabei Symptome des allgemeinen Verlusts gemeinsamer Glaubensinhalte, mit denen der Zusammenhalt und der Wille der Gemeinschaft verbunden waren. Das bedeutet jedoch nicht, dass die jüdische Vergangenheit und die Erinnerung an sie insgesamt ausgelöscht wären, sondern provoziert vielmehr die Frage nach ihrer jeweils aktuellen Beschaffenheit. In diesem Zusammenhang entwickeln viele jüdische Denker Kulturtheorien, die die Dynamik kultureller Prozesse im Zeichen von Diskontinuität, Vergessen, Verdrängen und Wiederkehr des Verdrängten deuten. In diesen posttraditionalen Konzepten wird die Ebene bewusster Überlieferungsarbeit zugunsten von Modellen des kulturellen Gedächtnisses verlassen, in denen die Unverfügbarkeit der Erinnerungen als eigentliche Produktivkraft der Kultur (etwa bei Freud und Aby Warburg) und die beharrliche Rückbindung an die Anfänge im Mittelpunkt stehen. Diese Kulturtheorien suspendieren die offiziellen und hegemonialen Modelle kultureller Überlieferung, indem sie entscheidend den Bruch, die Erschütterung an die Stelle der Kontinuität setzen.

Ein von Ashraf Noor auf der Grundlage eines Forschungsprojekts zu "Formen und Strukturen deutsch-jüdischer Erinnerung" zusammengestellter Sammelband unter dem Titel "Erfahrung und Zäsur" widmet sich dieser Erfahrung des Traditionsbruchs in der deutsch-jüdischen Moderne. Rekurriert wird dabei im Wesentlichen auf die Erfahrung einer doppelten Ohnmacht vieler jüdischer Intellektueller dieser Zeit: "Einerseits assimiliert und von der Zugehörigkeit zu einer Tradition entfremdet, die sie in der von 'Ostjuden' verkörperten Gestalt ablehnten, wurde ihnen andererseits die Berechtigung abgesprochen, die deutsche Kultur, die sie pflegten, als die ihrige zu betrachten." Geprägt ist diese Herangehensweise unverkennbar von Gershom Scholems drastischer Erkenntnis, dass die Assimilation zu einer Auflösung der jüdischen Kultur bereits vor der Shoa geführt habe. In Bezug auf das als rein fiktiv gewertete "deutsch-jüdische Gespräch" schreibt Scholem, dass "für das Nichtzustandekommen dieses Gesprächs als eines historischen Phänomens [...] zu einem wichtigen Teil die Liquidation der jüdischen Substanz durch die Juden selber verantwortlich zu machen ist." Andererseits trage aber auch die deutsche Gesellschaft Schuld an dem "Prozeß des Aufbruchs der Juden von sich selbst", insofern sie die Eile, mit der die Juden ihre Tradition abwarfen, als Zeichen von mangelnder Substanz dieser Tradition und Instabilität der Überlieferung deutete. Scholems Urteil ist unmissverständlich: "Kein Deutscher hat Kafka, Simmel, Freud oder Benjamin erkannt, als kein Hahn nach ihnen krähte - geschweige denn als Juden erkannt. Die verspätete Gerechtigkeit verschlägt hier nichts."

In diesem Zusammenhang verdient der Beitrag von Sigrid Weigel Beachtung, die nach einer Erörterung der Implikationen eines von Scholem im Rahmen seiner Kafka-Studien beschriebenen "Verstummens der Tradition" dessen Sprachtheorie mit der von Walter Benjamin vergleicht. Herangezogen werden erstmals auch Scholems poetologische Reflexionen (Dichtungstheorie der Klage) und seine eigenen Dichtungen. Auch Hannah Arendt, die - wie Ashraf Noor zu Recht hervorhebt - "die Koinzidenz des Aufkommens des modernen Antisemitismus mit dem Prozess der Assimilierung der Juden" verbinde, und Walter Benjamin sind hier nicht weniger kritisch. Bei beiden begegnen auf eindringliche Weise die Figuren der Zäsur und des Bruchs an der Grenze zwischen Judentum und deutscher Kultur einerseits und im Binnenraum des deutschen Judentums andererseits. Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes machen darüber hinaus deutlich, dass viele jüdische Denker das Verhältnis zur eigenen Tradition ebenso vor dem Hintergrund der genannten Figuren der Erfahrung und der Zäsur überdenken wie auch das Verhältnis zur deutschen Kultur im Allgemeinen, in deren Sprache ja diese Versuche überhaupt erst stattfinden.

Nach einer einleitenden Darstellung des Begriffs der unterschiedlichen Formen und Funktionen der Erinnerung im jüdischen Denken von der Bibel bis zu Benjamins geschichtsphilosophischen Thesen durch Paul Mendes-Flohr untersucht Inka Arroya Košenina die unterschiedlichen jüdisch-traditionellen und europäisch-modernen Intertexte, die Salomon Maimons "Lebensgeschichte" zugrunde liegen. Diese erste, in deutscher Sprache geschriebene Haskala-Autobiographie vereinigt "miteinander verflochtene, ineinander geschachtelte, disharmonische und aporetische Aussagen über Tradition und Aufklärung, über Glauben und Vernunft" und oszilliert beständig zwischen talmudischer Schreibweise und moderner Selbstfindung. Von besonderem Interesse ist auch der Beitrag von Christoph Schmidt, der die Frage nach der Bedeutung der politischen Theologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anhand einer Parallellektüre von Hermann Cohens "politischer Messianologie" und den Texten Carl Schmitts zu klären sucht. Sichtbar wird eine "eigentümliche Konjunktion" zwischen politischer Theologie und ästhetischer Moderne. Dieser jüdische Diskurs entfaltet sich im Spannungsfeld der antinomisch zueinander stehenden Pole Messianismus und Zionismus. Hier werden, wie Bernhard Greiner an anderer Stelle unterstrichen hat, zwei "Felder der Pragmatisierung" sichtbar, in denen die ästhetische Transposition theologischer Paradigmen (Tradition und Innovation, Schrift und Gedächtnis, Offenbarung, Name Gottes, aber auch die Stellung der jüdischen Nation zum Gesetz in der Theologie des Exils und der Theologie ihrer Negation) eine je unterschiedliche Wertigkeit einnimmt. Der Diskurs der Kulturkrise wird von Schmidt folgerichtig mit der von Georg Simmel bis Georg Lukács und Ludwig Klages, Max Weber, Emil Lask bis hin zu Carl Schmitt bemühten Denkfigur der 'Tragödie der Kultur' in Verbindung gebracht.

Die Aporie jüdischer Existenz in der Moderne lässt sich jedoch bei keinem Autor besser herausarbeiten als bei Franz Kafka. Dem trägt auch der Sammelband Rechnung. Andreas Kilcher untersucht in seinem Beitrag das Vergessen bei Kafka als organisatorisches Prinzip des Schreibens. Er wertet das Vergessen als "Indiz eines umfassenden, historischen und kulturellen Syndroms, das als die brüchige Konstitution der Moderne bezeichnet werden könnte. Vergessen ist ihr Zustand des Wissens, Vergessen ihr Modus der Erinnerung." Näher unterschieden werden drei "Dispositive des Vergessens", ein rhetorisches, ein gesellschaftliches und ein westjüdisches. Letzteres verweist auf die "Disposition einer von der Überlieferung und Erinnerung des jüdischen Wissens und der jüdischen Kultur abgeschnittenen Zeit, in der so etwas wie 'jüdische' Identität, Geschichte, Tradition, etc., immer nur ex negativo, genauer im Modus des Vergessens, erfahrbar ist." Ausgedrückt ist hierin die Erkenntnis, dass eine unmittelbare "Übersetzung" der Kafka'schen Bilderwelten in die Begrifflichkeiten bestehender philosophischer, psychologischer, soziologischer oder theologischer Denksysteme nicht möglich ist. Als "offene Kunstwerke" im Sinne Umberto Ecos erschließen die Texte Kafkas Spielräume, in denen sich die Erfahrungsgehalte verschiedenster Sphären durchdringen und im Experiment zu Vexierbildern zusammenschließen. Unter diesem Vorzeichen stehen auch die von Kafka im Winter 1923/24 an der "Hochschule für die Wissenschaft des Judentums" in Berlin besuchten Hebräisch- und Talmudlektionen. Dieser Annäherung an die kollektive jüdische Tradition inhärent ist eine ironische Figur, die die eigenen Anstrengungen sogleich zunichte macht. In einem Brief an einen Freund, dem er diese Hebräischstunden auch anempfahl, heißt es dementsprechend: "Daß Sie in die Iwriah gehen wollen, ist sehr gut, vielleicht nicht nur in die Hebräischkurse, sondern auch zur Talmudstunde (einmal wöchentlich! Sie werden es nicht ganz verstehn, was tut es? Aus der Ferne werden Sie es hören, was sind es sonst, als Nachrichten aus der Ferne)."

Während die einzelnen Beiträge des Sammelbandes die Figuren der Diskontinuität, Zäsur und Zersplitterung nur präludierend auf die Leit/d/erfahrung der Opfer der Shoah beziehen, stellt Amir Eshel in seiner Untersuchung "Zeit der Zäsur. Jüdische Dichter im Angesicht der Shoah" diese Erfahrungen in das Zentrum seiner Betrachtung. Dabei werden die Voraussetzungen und Methoden der Lektüre ästhetischer Zeit in moderner Lyrik über die oft verhandelten Fragen der Darstellungsproblematik und den Disput Lyrik nach Auschwitz hinaus reflektiert. Eshel streicht heraus, dass seit Ende des Zweiten Weltkriegs in allen Segmenten der jüdischen Kultur "eine neue Dimension akuten historischen Bewußtseins" spürbar sei. Dieser "ewigen Gegenwart" ist die Studie Eshels verpflichtet, indem sie die Frage stellt, wie durch unterschiedliche poetische Formen die Präsenz der Shoah sichtbar werde. Zentrale Bedeutung kommt hierbei natürlich dem Werk Paul Celans zu. Amir Eshel gelingt es jedoch, über ein close reading der Lyrik Celans hinausgehend, auch andere bedeutende jüdische Dichter und Dichterinnen in deren Gemeinsamkeiten und Differenzen vorzustellen. Im Gegensatz zu Celan, Nelly Sachs und Rose Ausländer entschieden sich die hier ebenfalls zu Worte kommenden Dichter Jehuda Amichai, Tuvia Rübner, Jakob Glatshteyn und Dan Pagis, Hebräisch zu schreiben. Damit rekurriert Eshel auf Hilde Domins zentrale Vermutung aus ihrem "Offenen Brief an Nelly Sachs" (1966): "Und während [der vom Rassenhass Verfolgte; A. S.] noch flieht und verfolgt wird, vielleicht sogar umgebracht, rüstet sich sein Wort schon für den Rückweg, um einzuziehen in das Lebenszentrum der Verfolger, ihre Sprache. [...] Die Sprache ist das Gedächtnis der Menschheit. Je mehr Sprachen man lernt, um so mehr nimmt man teil an der Erinnerung der Menschen, die aus allen Sprachen besteht. Die Dichter, vor anderen, halten diese Erinnerung lebendig und bunt. Ich meine: Sie erhalten sie virulent, indem sie die Sprache immer wieder spitz und verwundend machen, die sich dauernd abschleift und entschärft. Das kann jeder nur mit seiner Sprache tun. Die unsere ist eben deutsch. Daß der Ausgestoßene überdies ein besonders waches Verhältnis zum Wort hat, gerade wegen seiner Intimität mit fremden Sprachen, daß er ganz von selbst zum 'Botschafter' wird, in die fremden Sprachen die eigene hineintragend, und umgekehrt der Muttersprache 'Welt' anverwandelnd, ist nur ein weiteres der Paradoxe, die sein Leben ausmachen."

Die Lyrik jüdischer Dichter, schreiben sie nun deutsch oder hebräisch, bezieht sich eindeutig auf das Zeit- und Geschichtsbewusstsein der jüdischen Erinnerungskultur, ohne jedoch ihre ästhetische Autonomie in irgendeiner Form preiszugeben. Zu Recht hebt Eshel hervor, dass das Adjektiv 'jüdisch' in diesem Zusammenhang nicht religiös oder ethnologisch eingeengt werden dürfe. Vielmehr sei das Augenmerk auf die "besondere literarische Sprache" zu richten, die sich aus dem Bemühen ergebe, "die Spannung zwischen Dichtung und Herkunft" zu bewahren. Als Folge davon solle das einzelne Gedicht nicht als "bloßer Ausdruck kultureller Zugehörigkeit" gedeutet oder auf biographische Herkunft oder religiöse Bekenntnisse reduziert werden. Im Gegenteil impliziere das Adjektiv, dass die partikulare jüdische Kultur eine "unverzichtbare Quelle für das Verstehen literarischer Texte" darstelle. "Kultur und Quelle sind nicht als starre, abgrenzbare Reservoire zu begreifen, sondern als Archive der Überlieferung, als Schrift-, Wort- und Bildarchive, die vom schreibenden und lesenden Subjekt stets verwandelt werden." Daher verweise die facettenreiche Rhetorik der Zeit dieser Dichtung auf die "Spuren eines nicht anders als jüdisch definierbaren Zeit- und Geschichtsbewußtseins". Die von Eshel untersuchte Lyrik geht von einem meist unbenannten zeitlichen Ursprung aus, ihr implizites 'Datum' ebenso wie ihre Dauer stehen aber im Zeichen 'ewiger Gegenwart' (Scholem) und verweisen auf die "gesamte Spanne von davor, währenddessen und danach". Das einzelne Gedicht forme, so Eshel, die Dauer poetisch um, stelle aber dennoch "kein bruchfreies Glied in der jüdischen Tradition der Klage angesichts kollektiver Katastrophen" dar. Vielmehr markiere es deutlich "die tiefe Zäsur, die mit der Shoah dem jüdischen Leben und der jüdischen Kultur" widerfahren sei.

In allen diesen Texten steht dem Dahinschwinden der Vergangenheit, dem Flüssigwerden der Tradition in der nihilistischen Moderne eine Poetik und Grammatik der Erinnerung gegenüber, die das Kontinuum geschichtlicher Zeiten, wenn auch nur in ihrem Abgrund, stets figuriert. Neben tiefer Skepsis und der Klage über das Vergessen ist in dieser Lyrik eine geheime, fast mystische Gewissheit über die Kontinuität spürbar. Eshel hebt zu Recht hervor, dass sich hier ein Bewusstein von der "ununterbrochenen geschichtlichen Kontinuität" kundtue, das sich von der biblisch-jüdischen Vorstellung von Genealogie herschreibe und in der lückenlosen Überlieferung der kollektiven Geschichte ihren Höhepunkt finde. Die Poetik der Erinnerung, wie sie in der Lyrik lesbar werde, "relativiert nicht nur jede Trennung zwischen abgeschlossenen Zeitmodi, ästhetischer und historischer Zeit, sondern auch zwischen subjektiver und kollektiver Erinnerung." Diese Lyrik lässt sich somit weniger im Hinblick auf verifizierbare Ereignisse lesen, sondern vielmehr in ihrer Auseinandersetzung mit der jahrtausendealten Tradition von Erzählen, Zitieren, Deuten und Reflektieren der Verwobenheit des lyrischen Ich mit der jüdischen Kultur. Eshels Lektüre geht von der spezifischen Rhetorik der Zeit dieser Lyrik aus, ohne das 'Datum' - "im Angesicht der Shoah geschrieben worden zu sein" - zu leugnen.

In den drei Teilen der vorliegenden Arbeit macht Eshel auf drei ineinander übergehende Aspekte dieser Rhetorik einer "Zeit der Zäsur" aufmerksam: Erstens geht es um "die Erscheinungsformen von Zeit-Zeichen, die ein stets präsentes Ereignis evozieren", zweitens um "die Temporalität unabgrenzbarer, nie abgeschlossener Zeitmodi" ("die gezeitigte Sprache") und drittens schließlich um den Komplex der Erinnerung, wie er sich in Allegorien der genealogischen Kontinuität niederschlägt. Unter der Oberfläche der Gedichte verortet Eshel eine Rhetorik, die einer "singulären Erfahrung und dem Fehlen einer adäquaten Sprache, die dieser gerecht werden kann", Ausdruck zu verleihen sucht. Alle diese Lyriker, das ist das wichtige Ergebnis dieser Studie, zeugen in ihrer Sprache und ihren Bildern von der markanten Bindung an das kollektive Gedächtnis, an jenes unsichtbare Archiv der jüdischen Kultur. Ihr Schreiben kreist konzentrisch um das leere Zentrum der Sinnbildung. Jeder Versuch, die Zeit des Gedichts zu begrenzen, indem sie auf das historisch Vergangene oder das rein Ästhetische reduziert wird, bleibt erfolglos. Durch die spezifische Architektur des textuellen Raumes der Gedichte wird die Aporie und Paradoxie (un-)vergangener Zeiten reflektiert und das Fortdauern des Gewesenen festgeschrieben. Jedes Sprechen über die Shoah erneuert dabei das grundlegende Dilemma: Einerseits ist die Sprache nicht in der Lage, das Geschehene adäquat auszudrücken, andererseits soll und muss gesprochen werden, um die Erinnerung nicht abbrechen zu lassen. Darauf macht Eshel aufmerksam und öffnet dabei eine neue Perspektive deutsch-jüdischer Kultur in seiner Reflexion über Zeugnis, Sprache und Erinnerung im Angesicht der Shoa. Neu ist daran vor allem, dass die Zeichenkonstitution und die Temporalität der erinnernden Poetik mit den in der modernen Lyrik geradezu radikalen Ausdrucksformen kultureller Erinnerung in Verbindung gebracht wird.

Lesbar wird ein Gedächtnisraum, in dem zwischen den fernen, gewesenen Zeiten und der jetztigen keine Ähnlichkeit besteht. Keine Metapher der Vergangenheit suggeriert das Eingedenken. Dieses Erfahren vergangener Zeiten als "ewige Gegenwart" strukturiert die Rhetorik der Zeit der von Eshel vorgestellten Lyrik. Deshalb wird diese Lyrik nicht nach, sondern vielmehr im Angesicht von Auschwitz geschrieben. "Sie hinterfragt", wie Eshel resümiert, "jeden Versuch einer einengenden Periodisierung, jede Festsetzung von Zeitabschnitten, die die Shoah in historisierende Schranken zurückweisen könnten." Insgesamt erhebt sie die Dehnung der "Zeitschrunde" zum unumstößlichen "Zeugnis" über sie, wie es bei Paul Celan in einem Gedicht seines Lyrikbandes "Atemwende" heißt: "WEGGEBEIZT vom / Strahlenwind deiner Sprache / das bunte Gerede des An- / erlebten - das hundert- / züngige Mein- / gedicht, das Genicht. Aus- / gewirbelt, / frei / der Weg durch den menschen- / gestaltigen Schnee, / den Büßerschnee, zu / den gastlichen / Gletscherstuben und -tischen. / Tief / in der Zeitenschrunde / beim / Wabeneis / wartet, ein Atemkristall, / dein unumstößliches / Zeugnis."

"Es ist nicht wahr", so beschreibt Edmond Jabès jene religiöse Erfahrung, "daß man nach Auschwitz nicht mehr sprechen kann, wahr ist jedoch, daß nach Auschwitz unsere Worte sich verändert haben." Auch in dem dritten hier anzuzeigenden Band geht es um Erinnerung, aber auch um das Erinnern der Schwierigkeit, wenn nicht gar der Unmöglichkeit mancher Anamnesen, die als Wunden, Risse, Spuren, als ein sich Entziehendes in der Sprache übrig bleiben. Sven Kramer untersucht in seinem Buch "Auschwitz im Widerstreit. Zur Darstellung der Shoah in Film, Philosophie und Literatur" die Frage nach der Darstellbarkeit des Undarstellbaren, die vom Abbildungsverbot bis zur politisch korrekten Gedenkroutine reicht. Kritisch wird dabei immer wieder der Blick auf jene der Shoah eigentümlichen Distanz des Sich-Entziehenden gerichtet, so dass alle bildhaften und sprachlichen Fixierungen, alle sinnproduzierenden Prozesse, selbst wieder in Frage gestellt werden. Die Analyse könne sich, so Kramer, daher immer nur dem Inkommensurablen zuwenden. Ähnlich wie bei Eshel impliziert dieser rhetorische Zugang einen weiten Textbegriff, der die Strukturmerkmale unterschiedlicher Künste und Artikulationsformen umgreift. Dieser Umstand gereicht Kramer zum Argument dafür, Filme, philosophische und literarische Texte, jenseits aller zu berücksichtigenden gattungs- und diskursspezifischen Unterschiede, in derselben Perspektive zu untersuchen.

In den ersten drei Abschnitten stehen Filme unterschiedlichster Provenienz zur Diskussion, die themenzentriert und unter Berücksichtigung der Darstellungsdimension untersucht werden: Lumets "Pfandleiher", Pakulas "Sophies Entscheidung", Spielbergs "Schindlers Liste", Resnais' "Nacht und Nebel", Fechners "Prozeß" sowie Lanzmanns "Shoah".

Der erste Abschnitt ("Inszenierung und Erinnerung") interpretiert die Gaskammern als "phantasmagorisches Zentrum von Auschwitz"; untersucht werden die unterschiedlichen filmisch-rhetorischen Strategien, mit deren Hilfe die einzelnen Filmemacher jenen Ort vergegenwärtigen. Während Spielberg vor allem das Vergangene als eine success story erzählt, die sich im Beisein des Zuschauers entwickelt, inszenieren Resnais und Lanzmann die grundsätzliche Problematik des Erinnerns. Herausgestrichen werden hier die Wunde des Zeitsprungs und die grundsätzliche Aporie des Begreifens der Geschehnisse. Besonders Lanzmanns "Shoah" ist "der wohl radikalste ästhetische Versuch, das Grauen auszumessen, ohne auf die Bilder des Grauens zurückzugreifen." Geschichte wird hier zur Gegenwart - zu einer aus Gedächtnisspuren produzierten Realität. Die Worte der Zeugen lassen die Orte auferstehen, und die Gesten und Bewegungen lassen die Worte entstehen, die sich dagegen stemmen, (wieder) aufzuerstehen, das Grauen näher zu holen. Dabei erscheint diese (Nach-) Inszenierung als die einzige Möglichkeit, die Schrecken und das Erlebte sichtbar zu machen. Dieser Vorgang führt zu einer Irrealisierung, durch die überhaupt erst die Kraft der Imagination in Erscheinung treten kann. Lanzmann lässt dabei zwei Ebenen entstehen: die eine besteht aus dem, was real hör- und sehbar ist, die andere aus dem Imaginären, das durch das Gehörte und Gesehene hervorgerufen wird. Die Formen der Inszenierungen rechtfertigen sich dadurch, dass das Thema, die Radikalität des Todes, eigentlich nicht darstellbar ist. Ähnlich einem schwarzen Loch kann das, was darin ist, nicht sichtbar gemacht werden. Aber es kann sprachlich eingekreist und kraft der Imagination erahnbar werden. Lanzmann arbeitet daher mit dem Mittel der Aussparung, gleichzeitig rekurriert er mehr auf das Vor-stellende als auf das Dar-stellende. Dabei verliert die Vergangenheit ihren Status, wird gegenwärtig und die Abgeschlossenheit zerbricht. Die Struktur von "Shoah" ist dementsprechend spiralförmig. Die Gespräche und die Kamera bewegen sich um einen 'blinden Fleck', eine Leere. Von den Wegen, den Orten, den Menschen geht es immer weiter in das Innere der Tötungsmaschinerie, in den inneren Kreis der Hölle. Mit "Shoah" liegt der Gedanke nahe, dass gerade das Kunstwerk die Möglichkeit in sich trägt, die Vernichtung der europäischen Juden vor- und nicht dar-stellbar werden zu lassen. Lanzmann selbst sprach - gerade auch in Abgrenzung zu Spielberg - von der Notwendigkeit eines Darstellungsverbots: "Der Holocaust ist vor allem darin einzigartig, daß er sich mit einem Flammenkreis umgibt, einer Grenze, die nicht überschritten werden darf, weil ein bestimmtes, absolutes Maß an Greueln nicht übertragbar ist: Wer es tut, macht sich der schlimmsten Übertretung schuldig. Die Fiktion ist eine Übertretung, und es ist meine tiefste Überzeugung, daß jede Darstellung verboten ist." Kramer deutet daher Lanzmanns Versuch, die Authentizität des Zeugnisses in erster Linie am Körper der Überlebenden aufzusuchen, als dessen genuin filmisches Konzept, währenddessen Spielbergs Rhetorik historiographischer Wahrhaftigkeit nur Authentizität aus zweiter Hand biete.

Der zweite Essay erörtert deshalb an weiteren Filmen die Frage, inwiefern sich "Authentizität" bei diesem Thema in "Authentisierungsstrategien und -rhetoriken" auflösen lasse. Dekonstruiert werden quer durch die Gattungen hindurch einige Artefakte, "die Authentizität für sich reklamieren oder denen Authentizität zugesprochen wurde, um dann Gründe zu nennen, warum trotz aller Kritik an dem Begriff im Zusammenhang mit der Shoah festgehalten werden sollte." Nicht berücksichtigt wird dabei jedoch die Frage nach dem auto-dekonstruktiven Gestus in den Artefakten selbst. Gerade der emphatische Begriff des Authentischen, der bei Adorno Verwendung findet, verweist auf das generell Nicht-Identische, das im Kunstwerk als sedimentierte Erfahrung des Anderen kompositorisch gebunden liegt - ein gerade für Aspekte einer Kultur nach Auschwitz nicht zu unterschätzender Faktor. Dieses Moment des Nicht-Identischen sieht Kramer im Sich-Entziehenden bei Lanzmann verwirklicht, das mehrere Aspekte habe: "das Unbegreifliche des Vorgangs, das, was Dan Diner dessen Gegenrationales genannt hat, und die Unzugänglichkeit des Traumas." Das Vergangene erscheint somit ausschließlich im Modus des Filmens respektive Schreibens über das Vergangene. Das Trauma in seiner Unfassbarkeit verkörpert die Gegenwärtigkeit des Vergangenen. Aus der Perspektive der Opfer, darauf verweist Kramer in seinem dritten Abschnitt ("Trauma, Zeit und Erzählung") zu Recht, "entzieht sich die ganze Implikation der Shoah der Darstellung und der Kommunikation".

In den zwei folgenden Essays über die Darstellung der Shoah in der Philosophie stehen Adorno und Jean-François Lyotard im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Lyotard eröffnete 1980 auf einem Kolloquium in Cerisy La Salle mit seinem Beitrag "Streitgespräche, oder: Sätze bilden 'nach Auschwitz'" eine Debatte, die nicht nur als 'Widerstreit' über und um die Dekonstruktion innerhalb der zeitgenössischen französischen Philosophie Frankreichs von Belang ist. Vielmehr ist mit der Figur des 'Widerstreits' die ungelöste Aufgabe des Denkens gemeint, Geschichte als Zäsur zwischen Ereignis und Erneuerung erneut zu bedenken. Die Unterbrechung des spekulativen Diskurses, für die - wie Lyotard im Anschluss an die Negative Dialektik Adornos betont - der Name 'Auschwitz' ein beispielloses Beispiel darstellt, verdankt sich der Undarstellbarkeit des hierunter vorgestellten traumatischen Einbruchs in der Geschichte. Sichtbar wird die Frage nach dem Status einer epochalen Zäsur, die im geläufigen Schema der Zeit nicht aufgeht. Denn "der Versuch, die Singularität von Auschwitz im Gedächtnis bewahren zu wollen, gelingt nur, wenn eben diese im Schema kontinuierlicher Abläufe nicht subsumierbare Zäsur bestehen bleibt" (Tholen/Weber). Kramer hebt hervor, dass sich die Konsequenzen für die philosophischen Anstrengungen Lyotards wie Adornos in der Auseinandersetzung mit der Shoah gerade auch in ihrer Reflexion auf die Sprache niederschlagen. Die von Adorno mehrfach thematisierte "Unsagbarkeit" von Auschwitz indiziert den defektiven Zustand der Sprache. Das Unbenennbare fällt - wie schon bei Lanzmann - in den Bereich des Inkommensurablen. Eine weitere rhetorische Brücke in dieses Denken ist die von Adorno und Lyotard gleichermaßen verwendete Denkfigur der 'Zäsur', die Auschwitz darstelle. Sie drückt sich vor allem in der Datierung 'nach Auschwitz' aus.

Diese bei Lanzmann, Adorno, Lyotard, aber auch in der Lyrik jüdischer Dichter nach 1945 immer wieder begegnende Form der Inkommensurabilität mit sich selbst muss mit Tholen/Weber als "ein Riss in der Identität der Form der Zeit bestimmt [werden], ein Riss, der sich seiner psychologischen, historiographischen und ästhetischen Identifizierbarkeit entzieht". Gleichzeitig ist dieser Entzug nicht selbst wiederum als ein geschichtsferner oder mystischer Ort zu platzieren. Denn auf diese Weise fixiert, wäre er - gerade als Zeichen radikaler Negativität - dem Schema einer (wie auch immer verborgenen) Präsenz keineswegs entzogen. Somit bleibt Auschwitz der extreme Einwand gegen jede Stillstellung des Denkens in der Sinnhaftigkeit und Anlass immer wieder neuer Versuche, das Unverständliche der Katastrophe konzentrisch zu umkreisen. Denkfiguren wie 'Bruch' und 'Kontinuität', 'Zäsur', 'gezeitigte Sprache', 'Erinnerung' und deren Unterbrechung, die sich in viele Texte deutsch-jüdischer Intellektueller eingeschrieben haben, reflektieren die spezifische Potenzierung der Erfahrung der Moderne vor und nach Auschwitz.

Titelbild

Sven Kramer: Auschwitz im Widerstreit. Zur Darstellung der Shoah in Film, Philosophie und Literatur.
Deutscher Universitäts-Verlag, Wiesbaden 1999.
143 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 382444366X

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Ashraf Noor: Erfahrung und Zäsur. Denkfiguren der deutsch-jüdischen Moderne.
Rombach Verlag, Freiburg 1999.
336 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3793092097

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Amir Eshel: Zeit der Zäsur. Jüdische Dichter im Angesicht der Shoah.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 1999.
244 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 382530860X

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