Nero als Kaiser der Ästheten

Roger Bauer beschreibt die schöne Macht der Décadence

Von Roman LuckscheiterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roman Luckscheiter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Leben fern von banalen Sorgen, Konzerte im Grünen, glänzende Seide als Alltagskleidung - die Gemälde des Antoine Watteau erfassen den Geschmack der aristokratischen Gesellschaft um 1700 und sind ein Signum des feinsinnigen Rokoko. Nach ihm kam das "Jahrhundert der Vernunft" (E. H. Gombrich), das ganz puritanisch den bürgerlichen Alltag in Szene setzte und für die Galanterien des Rokoko nur noch Spott übrig hatte. Erst nach der Juli-Revolution von 1830 entdeckte die Pariser Maler- und Dichterbohème die poetische Welt Watteaus wieder und feierte das absolute Schönheitsideal seiner "Fêtes galantes" als eine Art Gegengift gegen die an die Macht gekommene, utilitaristische Bourgeoisie. Gegen die fortschrittsgläubigen Saint-Simonisten und Neo-Katholiken verkündete man die Freiheit der Kunst und erfreute sich nicht nur an ihren märchenhaften Entrückungen, sondern auch, konsequent zu Ende gedacht, an der Lizenz zur Darstellung des Unmoralischen und Hässlichen.

Kurzum: man wurde dekadent und fühlte sich dabei im selbstgeschaffenen Universum des L'Art pour l'Art recht wohl, was nicht ganz selbstverständlich ist, wenn man bedenkt, dass im Begriff der Dekadenz stets der Niedergang mitschwingt - und dass Watteau selbst in jungen Jahren an Schwindsucht gestorben ist.

Den kulturgeschichtlichen Zusammenhängen und Verlaufsformen dieser europäischen Bewegung, die sich ganz dem Artifiziellen verschrieb und für Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts von prägender Kraft war, geht der Komparatist Roger Bauer in seiner gründlichen Abhandlung "Die schöne Décadence" nach. Er beginnt seine "Geschichte eines literarischen Paradoxons" schulmäßig mit dem Blick in etymologische Wörterbücher, um dort all jene Konnotationen des Dekadenten aufzuspüren, die von Baudelaire bis Huysmans, von Heine bis Hofmannsthal nacheinander, mitunter auch gleichzeitig aufgerufen und von der Literaturkritik für Ablehnungen oder Parteinahmen instrumentalisiert wurden; in der deutschen Kritik wurde bisweilen ein Unterschied zwischen dem Stilbegriff "décadence" (womit Thomas Mann zeitweilig seine Zugehörigkeit zur französischen Strömung signalisierte) und der germanisierten Form "Dekadenz" als Begriff des Verfalls gemacht.

Für die anfängliche Dynamik der ästhetischen Bewegung erweisen sich zwei Ideen als relevant: zum einen die kompensatorische Einschätzung, die Literatur könne in einer Zeit politischen und sittlichen Niedergangs den Weg neuer Kultiviertheit weisen, als Literatur der Dekadenz mithin zivilisatorisch wertvoll sein; zum anderen die systematische Ausdifferenzierung der Kunst, die das Schöne von seinen bis dahin obligatorischen Begleitern, dem Guten und Wahren, löste und emanzipierte. Charles Baudelaire und Théophile Gautier propagierten und etikettierten die "littérature de décadence", deren Stil "krankhafter Sensibilität" (Zola) dann immer weiter popularisiert wurde, unter anderem durch Paul Bourgets kritischen "Essai de psychologie contemporaine". Erst als die Dekadenz fast omnipräsent zu sein schien, wurde sie auch vom Ausland wahrgenommen und zugleich mit den in Frankreich einsetzenden Ironisierungen und Persiflierungen rezipiert.

Eine Generation nach den ersten Dekadenten entstanden zahlreiche selbstironische Literarisierungen des Ästhetendaseins, in denen besonders die Strategie, verlorene Lebenskraft durch die Verfeinerung der Nerven und Gefühle zu kompensieren, problematisiert und ridikülisiert wird. So gerät Joris K. Huysmans Protagonist Des Esseintes in "A rebours" zum Inbegriff des kranken, lebensunfähigen Radikalaristokraten, der rasch primus inter pares anderer Romanfiguren wird: vergreiste, feminisierte und unfruchtbare Wesen bevölkern gegen Ende des Jahrhunderts die Literatur noch auf den entlegensten Schauplätzen, die Roger Bauer für seine Darstellung aufgesucht hat. Die unheimliche Macht des Negativen, die in der Dekadenz zunehmend verspürt wurde, rief erwartungsgemäß eine Gegenbewegung hervor, die den "Entartungs"-Tendenzen, wie sie nicht nur von Max Nordau polemisch beschrieben wurden, neue, zum Teil fanatische Ideale viriler Kraft und nationaler Gemeinschaft entgegenstellte.

Der Abschied von der Dekadenz, der von Autoren wie Hugo von Hofmannsthal im Namen eines reifen, dauerhaften Lebens vollzogen wurde, bedeutete auch den Abschied von der Bilderwelt des dekadenten Vorbilds Rom. "An dem Rom der Verfallszeit" habe man sich in der Jugend "wollüstig festgesogen", bekennt Hofmannsthal, und blickt auf eine Traumlandschaft zurück, zu deren zentralen Symbolen Kaiser Nero gehört. Dem "Schutzheiligen ungehemmter Phantasie und absoluter Schönheit" widmet sich Bauer ausführlich in seinem eindrucksvollen Kapitel über die Topoi der Décadence und kann einen detailreichen Bogen von antiken Nerobildern bis zu "Neros späten Erben" in der ausklingenden, parodistischen Dekadenzliteratur schlagen.

Der Umschwung vom Nerobild des grausamen Ungeheuers zum immerhin interessanten Sonderling findet laut Bauer 1782 bei Diderot statt; Karl Philipp Moritz bekennt sich 1797 dann zu der Versuchung, sich mit dem amoralischen Helden zu identifizieren ("Wir alle sind im Grunde unsres Herzens kleine Neronen, denen der Anblick eines brennenden Roms, das Geschrei der Fliehenden, das Gewimmer der Säuglinge gar nicht übel behagen würde, wenn es so, als ein Schauspiel vor unseren Blicken sich darstellte.") Unter dem Zeichen der Libertinage wird zudem im späten 18. Jahrhundert (Sade) das große freie Individuum und der souveräne, amoralische Künstler gefeiert.

So war es nur eine logische Fortführung, wenn Gautier 1835 als Vorstandssprecher der neuen Dekadenten ausrief: "Dein goldenes Haus, o Nero, ist ein verschlammter Stall im Vergleich mit dem Palast, den ich für mich erbauen ließ." Wichtiger als die Person wurde die kunstvolle Umwelt des Kaisers, die Chiffren für eine "supranatürliche Schönheit" bot und zahlreiche Autoren, darunter Gustave Flaubert, in Verzückung geraten ließ. Doch auch ein Nero unterliegt den Gesetzen der Popularisierung und Entheroisierung. Bald wurden "neroianische Masken" Mode, weil sich nicht nur Huysman für Nero halten wollte; Hofmannsthal deklarierte Nero despektierlich zum "gekrönten Schutzpatron des Dilettantismus"; einen "Schmierenkomödianten" nannte Friedrich Nietzsche den Künstlerkaiser.

Ähnliche Motivgeschichten skizziert Bauer am Beispiel der Teufelin Herodias-Salome, mit Fundstücken bei Heine, Mallarmé, Wilde und vielen anderen, oder am Beispiel des Treibhauses als Symbol geheimnisvoller Schönheit, schwüler Dünste, Wucherungen und bedrohlicher Üppigkeit - wobei es der Zufall will, dass sich die Ingenieursleistung des "modernen Treibhauses" just zeitgleich mit den Dekadenten in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts durchsetzte. Die Kapitel zum Echo der Décadence im Ausland, zum Verhältnis Nietzsches und Jung-Wiens zur französischen Strömung, bieten schlaglichtartig weitere Einblicke in die europäische Kulturgeschichte und stehen in puncto Belesenheit dem Vorherigen nicht nach. Es zeigt sich nur, dass das Konzept, eine sowohl thematisch als auch chronologisch gegliederte Darstellung zu bieten, hier an seine Grenzen stößt: Wiederholungen sind unvermeidbar und Aus- und Rückblicke tragen zunehmend zur Verwirrung des Lesers bei.

Die Tatsache, dass Roger Bauer über Jahre hinweg intensiv zu dem Themenkreis der Décadence geforscht und publiziert hat, kommt dem Buch paradoxerweise nicht nur zugute; sie verhindert in gewisser Weise eine Darstellung aus einem Guss mit klaren Linien, zentralen Thesen und präzisen Theorien. Das macht sich in zwei Bereichen besonders bemerkbar: zum einen fallen die Abgrenzungen oder Annäherungen zu benachbarten Erscheinungen wie Dilettantismus, L'Art pour l'art, Fin de siècle etc. etwas anekdotenhaft aus und geben entsprechende Definitionsversuche der Forschung nur in Ansätzen wieder. Zum anderen zerfällt die Darstellung des französisch-deutschen Dekadenztransfers in kleinteilige (gleichwohl wertvolle) Verweise einerseits und sehr knappe Andeutungen größerer Rezeptionszusammenhänge andererseits.

Viele solcher kleinen Schwächen sind freilich dem heterogenen Gegenstand selbst anzulasten. Andere wiederum könnten in einer - wünschenswerten - Taschenbuchausgabe vermieden werden: längere französische Zitate in den Fließtext einzugliedern und die deutsche Übersetzung in Klammern folgen zu lassen, behindern den konzentrierten Lesevorgang ebenso wie die - auf den ersten Blick elegante - Entscheidung, Anmerkungen an das Ende des Buches zu verbannen. Denn hier kommt ins furiose Blättern, wer vom ganzen Gewicht des Werkes profitieren und den umwerfenden Schatz an Lektürezeugnissen des Autors nutzen will.

Titelbild

Roger Bauer: Die schöne Décadence. Geschichte eines literarischen Paradoxons.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2001.
421 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3465030613

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