Die Skepsis der Systeme

Helga Gripp-Hagelstanges Sammelband "Niklas Luhmanns Denken"

Von Roland KroemerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Roland Kroemer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Jahre nach Niklas Luhmanns Tod hat sein Denken die Grenzen der Soziologie längst übersprungen. Zu universell ist die Systemtheorie - Luhmann selbst bezeichnete sie als "Supertheorie" -, als dass sie von den anderen Wissenschaftszweigen hätte ignoriert werden können. Gerade auch die Monographien, die einzelne Funktionssysteme der ausdifferenzierten Gesellschaft - z. B. das Recht, die Wirtschaft oder die Kunst - systemtheoretisch beobachten, lassen sich als Herausforderung, gar als Provokation der genannten Fachrichtungen auffassen. Luhmanns Wirkung beschränkt sich also keineswegs auf Gebiete der Soziologie, der Literaturwissenschaft oder Philosophie. Das gesamte Wissenschaftsspektrum scheint vom Paradigmenwechsel betroffen zu sein. Umso interessanter ist der von Helga Gripp-Hagelstange herausgegebene Band "Niklas Luhmanns Denken", in dem dessen "Interdisziplinäre Einflüsse und Wirkungen" dargestellt werden.

Eines vorweg: die Lektüre lohnt sich. Die neun Aufsätze nähern sich der Systemtheorie von einer jeweils anderen Seite und verhelfen dadurch zu einem tieferen Verständnis spezieller Fragestellungen. Dabei aber wirkt die Auswahl der Beiträge nicht immer stringent. Wie in Sammelbänden nicht selten, lassen sich auch hier einige Texte dem im Untertitel vorgegebenen Motto des Buchs nicht ohne weiteres zuordnen.

So bemüht sich Armin Nassehi in seinem Beitrag "Tempus fugit?" um eine systemtheoretische Erörterung des Zeit-Begriffs und gelangt dabei zu Ergebnissen, die Luhmanns Überlegungen konsequent weiterführen. Einen "interdisziplinären" Ansatz verfolgt Nassehi allerdings nicht. Sieht man von seinen Rückblicken auf die philosophische Tradition ab, von deren ontologischer Zeitvorstellung er sich verabschiedet, bewegt sich seine Argumentation streng in den Grenzen Luhmann'scher Systematik.

Auch Peter Fuchs, einer der bekanntesten Schüler Luhmanns, stellt in seinem Aufsatz "Die Skepsis der Systeme" keinen konkreten Einfluss der Systemtheorie dar. Ihm geht es um Klärung des Theorie / Praxis-Problems aus systemtheoretischer Sicht. Gerade vor dem Hintergrund der anderen Beiträge, die Luhmanns Denken wiederholt Praxisferne vorwerfen, sind seine Ausführungen aufschlussreich. Ähnlich wie Nassehi lehnt auch Fuchs alle ontologischen Implikationen ab und behandelt Theorie und Praxis als zwei sich gegenseitig bedingende Seiten derselben Beobachtung: "Die Praxis ist keine Seinsdomäne sui generis, sie ist selbst ein Beobachtungsartefakt. Sie hat als Effekt eines spezifischen Schema-Einsatzes keine wie immer geartete Priorität, ihr kommt keine Sonderkraft oder Sonderrealität zu."

Dies gilt auch und gerade für Disziplinen, die einen eher praxisorientierten Zugang zur Systemtheorie suchen. Überzeugend führt Theodor M. Bardmann dem Leser vor Augen, welch ein Erkenntnisgewinn zu erzielen ist, wenn die Vorgehensweise und Probleme sozialer Arbeit mit Hilfe der Systemtheorie - er stützt sich insbesondere auf die Begriffe der Inklusion und Exklusion - einer Reflexion unterzogen werden. Ähnlich geht auch Rainer Wagner vor, wenn er den Nutzen einer systemtheoretischen Analyse für die Unternehmensberatung darstellt. Dass die Systemtheorie auch von der Psychotherapie wahrgenommen wurde und teilweise bereits Eingang in deren Methodik gefunden hat, zeigt Kurt Ludewig, der die Grundzüge der Systemischen Therapie, einer vergleichsweise jungen und explizit wissenschaftsorientierten Richtung der Psychotherapie, skizziert. Dabei verzichtet er allerdings darauf, den Einfluss der Systemtheorie anhand konkreter Fragestellungen zu demonstrieren; sein Blick auf das "Erbe Luhmanns" besteht im Wesentlichen aus der Schilderung persönlicher Leseerfahrungen und Erinnerungen an ihn.

Aufschlussreicher sind die Aufsätze über das Verhältnis von Systemtheorie und Theologie (Hans-Ulrich Dallmann), Recht (Udo Di Fabio), Journalismus (Siegfried Weischenberg) und Ökonomischer Theorie (Otto F. Bode). Diese Autoren stellen nicht nur den Entwicklungsstand ihrer eigenen Forschungsrichtung vor, sondern fassen auch Luhmanns Einschätzung der jeweils betroffenen Funktionssysteme zusammen. So hat der Leser zusätzlich die Möglichkeit, sich einen ersten Überblick über spezielle Teilbereiche der Systemtheorie zu beschaffen, ohne sich gleich an die Primärliteratur wagen zu müssen.

Erfreulich am vorliegenden Sammelband ist, dass sich die Autoren der Systemtheorie zwar überwiegend affirmativ, keineswegs aber unkritisch nähern. Das ist im Hinblick auf vergleichbare Veröffentlichungen, in denen Luhmanns Sätze als nicht mehr zu hinterfragende Offenbarung angeführt werden, besonders hervorzuheben.

So rekapituliert Hans-Ulrich Dallmann in "Immanenz, Transzendenz, Kontingenz", einem der informativsten Beiträge des Buchs, zuerst Luhmanns Analyse der Religion (er konzentriert sich dabei auf die Bestimmung von Funktion und Codierung); stellt danach einige Beispiele theologischer Luhmannrezeption vor (etwa Karl-Wilhelm Dahms Funktionale Kirchentheorie); um abschließend kritische Einwände zu formulieren. Problematisch sei beispielsweise, dass Luhmann in seinen Texten ein Bild der Religion voraussetze, das dem - komplexeren - Religionsverständnis der Theologie nicht gerecht werde: "Es geht mir hier nicht darum, einem Soziologen mangelnde theologische Kenntnisse vorzuwerfen - was auch absurd wäre, denn die historischen Interpretationen Luhmanns sprechen für sich -, sondern eher darum, dass seine Bestimmung der Besonderheiten religiöser Kommunikation an einem Modell gebildet wurde, das in der theologischen Entwicklung als überholt gelten kann." Ein Einwand, den auch überzeugte Systemtheoretiker nicht unbesehen zurückweisen sollten, zumal er in ähnlicher Form auch von Vertretern anderer Disziplinen erhoben wird.

Trotz dieser Kritik an Luhmann verdeutlichen die meisten der Beiträge, wie einflussreich sein Denken auch für Disziplinen außerhalb der Soziologie geworden ist. Auch wenn die Rezeption seiner Werke noch ganz am Anfang steht, zeichnet sich doch bereits heute der heuristische Wert einer systemtheoretischen Betrachtung für andere Wissenschaftszweige ab. Zu wünschen ist freilich, dass der Einfluss nicht einseitig wirkt. Auch die Systemtheorie, deren Ausformulierung nach Luhmanns Tod längst nicht beendet ist, sollte und muss sich von den anderen Wissenschaften irritieren lassen, will sie der Gefahr der dogmatischen Erstarrung entgehen.

Titelbild

Helga Gripp-Hagelstange (Hg.): Niklas Luhmanns Denken. Interdisziplinäre Einflüsse und Wirkungen.
UVK Verlagsgesellschaft, Konstanz 2000.
260 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3879407215

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