So sprach der große E

Klaus-Peter Möllers "Wörterbuch der DDR-Soldatensprache"

Von Henri BandRSS-Newsfeed neuer Artikel von Henri Band

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sind Sie schon einmal einem "Tageschwein", einem "Hüpper" oder gar einem "ideologischen Gartenzwerg" begegnet? Waren Sie schon im "Land der drei Meere", in der "Dachsfarm" oder in einer "Bummistunde"? Wissen Sie, wie man "Schildkröte" und "Taschenbillard" spielt? Haben Sie jemals "Atombrot" oder "Bismarckhusten" essen müssen, einen "blauen Würger" getrunken und sich vor "Hängolin" gefürchtet? Sie verstehen nur Bahnhof? Dann sind Sie offensichtlich nie in "Hoffmanns" bzw. "Keßlers Trachtengruppe" aufgetreten. Zu Ihrem Glück. Gemeint ist nämlich die NVA, die Nationale Volksarmee der DDR.

Militärische Organisationen gehören zu jener Kategorie von geschlossenen Anstalten, die der amerikanische Soziologie Erving Goffman vor vier Jahrzehnten als "totale Institutionen" bezeichnet hat. In ihnen blüht ein spezifischer "Anstaltsjargon", der die allgegenwärtigen Macht- und Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den Insassen und dem Aufsichtspersonal auf verschrobene Weise zum Ausdruck bringt. Der Germanist Klaus-Peter Möller hat in akribischer Arbeit ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache zusammengetragen. Begonnen hat er damit Anfang der achtziger Jahre während seines eigenen Wehrdienstes als Unteroffizier auf Zeit. Die Sammeltätigkeit fand ihre Fortsetzung in den Jahren des Studiums in Potsdam und während einer dreimonatigen Reserveoffiziersausbildung in Seelingstädt, auch "Seelingrad" genannt. Darüber hinaus hat er Zeitzeugen befragt, Zuschriften auf einen in Zeitungen veröffentlichten Aufruf ausgewertet sowie die belletristische und autobiographische Literatur gesichtet. Herausgekommen ist nicht nur ein philologisches Wörterbuch einer Spezialsprache, das höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, sondern ein vielschichtiges Porträt des Alltags in den Kasernen der DDR. Neben den damals gebräuchlichen Ausdrücken des Soldaten- und zum Teil auch Offiziersjargons und kurzen Erklärungen ihrer Bedeutungen finden sich Redewendungen, Rituale, Gegenstände von hohem Symbolwert und eine Auswahl an Liedern, Witzen, Dokumenten und Fotos.

Einmal mehr erweist sich die gesprochene Alltagssprache als ein hervorragender Seismograph des sozialen Zusammenlebens von Menschen. Der Wehrpflicht konnte sich in der DDR praktisch kein Mann entziehen. Die Zwangssituation der Kasernierung und die sehr weit gehende Abschottung der Soldaten vom Zivilleben forcierten die anstaltsinterne Sprachsozialisation. Die Mannschaftsdienstgrade bekamen nur selten Ausgang und Urlaub. Über vier Fünftel der Truppe hatten auch an den Abenden und am Wochenende in den spartanischen Unterkünften auszuharren, um stets eine hohe Gefechtsstärke der NVA zu gewährleisten. "Tagedrücken" und "Kasernenkoller" waren keine Seltenheit und wurden in (Sprach-)Ritualen abreagiert. Diese Zwangssituation erklärt die Zwiespältigkeit, Aggressivität und Affektgeladenheit der Umgangssprache in den Kasernen der DDR. Sie ist eine Sprache der Unterdrückten und der Unterdrückung, der Ohnmacht und des Widerstandes, des Frustes und des Triumphes über den alltäglichen Stumpfsinn.

Das Wörterbuch erschließt den Militäralltag als eine durchherrschte und demoralisierende Ordnung. Das heißt nicht, dass sich die Soldaten ihrer Haut nicht zu wehren wussten. Das Buch belegt auch den reichen Schatz an verbalen und rituellen Widersetzungen, der sich unter dem Druck des Dienstregimes entwickelt hat. Viele Wörter der offiziellen DDR-Militärsprache hatten soldatenmundartliche Pendants, die ihren dienstvorschriftsmäßigen Sinn ad absurdum führten. Die meisten Wehrpflichtigen traten nicht ihren "Ehrendienst" in der NVA an, sondern gingen zur "Asche". Aus dem "Politunterricht" wurde in der Sprache der Soldaten die "Bummistunde" bzw. "Rotlichtbestrahlung" und aus dem als Belobigung gemeinten "Bild vor der entfalteten Truppenfahne" ein "Aktfoto vor der ausgebreiteten Tischdecke".

Angesichts der zahlreichen virtuosen Sprachschöpfungen könnte man versucht sein, in den NVA-Soldaten nur die kollektiven Nachfahren Schwejks zu sehen. Auf den zweiten Blick wird jedoch die Funktionsweise einer Herrschaftsordnung sichtbar, in der die Herrschaftsunterworfenen durch ihr Verhalten, trotz aller rebellischen Tendenzen, aktiv zum Erhalt dieser Ordnung beitrugen. In der NVA geschah dies vor allem durch die "E-Bewegung". Unter den Soldaten gab es eine strikte inoffizielle Rangordnung der Diensthalbjahre, und die Sprache war eines der wichtigsten Instrumente, mit denen diese Rangordnung reproduziert wurde. Die Stellung eines Soldaten in der Hierarchie leitete sich aus der "Tageszahl" ab, die er noch zu dienen hatte. An der Spitze der Hierarchie stand der "Entlassungskandidat" (E bzw. EK), dem die anderen Diensthalbjahre zu Willen zu sein hatten. "Der E denkt, der Vize lenkt und der Spritzer rennt", hieß es damals. Lästige Arbeiten wie Stuben- und Revierreinigen blieben dem ersten Diensthalbjahr vorbehalten. Die Führungsarbeit überließ der "große E" den so genannten "Zwischenpissern", den Soldaten des zweiten Diensthalbjahres; für sich selbst beanspruchte er "Ruhe, Geborgenheit und Wärme (RGW)". Die Pflichten und Rituale, die die "Glatten" über sich ergehen lassen mussten, reichten je nach moralischem Format der E's von eher harmlosen Spielen wie zum Beispiel "Betteinstieg trainieren" (ohne das Bett des E's zu erschüttern) bis hin zu schikanösen Praktiken wie "Musikbox spielen" (ein Soldat des 1. Diensthalbjahres wurde im Spind eingesperrt und zum Singen gezwungen) und "sibirischer Winter" (Reinigen des mit Scheuerpulver bestreuten Fußbodens). Die E-Bewegung verlängerte auf diese Weise das militärische Prinzip des ranggebundenen Gehorsams bis in die Soldatenstuben und die wenigen Stunden der Freizeit hinein. Diese Komplizenschaft irritiert umso mehr, als die politisch-ideologische Indoktrination der Soldaten weitgehend scheiterte, wie der Autor in der Einleitung zu Recht bemerkt. Obwohl subversiv in manchem Inhalt und mancher Form war die E-Bewegung letztlich ein systemstabilisierender Faktor. Sie wurde deshalb von Offiziersseite zumeist stillschweigend geduldet, obwohl sie dem offiziell propagierten Ideal sozialistischer Beziehungen zwischen den Wehrdienstleistenden Hohn sprach.

Was die nahe liegende Frage nach den DDR-Spezifika der NVA-Soldatensprache und der E-Bewegung im Vergleich etwa zur Bundeswehr, zur Wehrmacht oder zu den Verhältnissen in den sozialistischen Bruderarmeen betrifft, beschränkt sich Möller auf einige Hinweise. Die Leistung des Wörterbuches besteht vor allem darin, die materialen Voraussetzungen für einen solchen Vergleich geschaffen zu haben. Die E-Bewegung nahm jedenfalls nicht die erschreckenden Ausmaße an wie das "dedovšcina"-System in der Sowjetarmee, das offiziellen Angaben zufolge zwischen 1975 und 1990 zehntausenden jungen Soldaten des Leben gekostet hat.

Last but not least hat Möller mit diesem Lexikon auch ein Wörterbuch der (DDR-)Männersprache vorgelegt, das instruktive Einblicke in einen Kernbereich der Geschlechterkonstruktion in der DDR eröffnet. Viele der dokumentierten vulgären und zotigen Ausdrücke, der archaisch anmutenden Rituale und E-Belustigungen dienten der männlichen Identitätsbehauptung und Selbstinszenierung durch kollektive Grenzerfahrungen, die bis heute von vielen ostdeutschen Männern als Schlüsselerlebnisse - mit Stolz oder mit Abscheu - erinnert werden.

Titelbild

Klaus-Peter Möller: Der wahre E. Ein Wörterbuch der DDR-Soldatensprache.
Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2000.
338 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3931836223

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