Die Gefühle eines Traumwandlers

Julian Schutting versucht eine "Rohübersetzung" der Liebe

Von Dominik Johannes SchäferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dominik Johannes Schäfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer schläft, sündigt nicht. Doch wer sein ganzes Leben träumend verschläft, lebt nicht und versündigt sich so gegen das Leben und die Liebe. Wer aber die Liebe zum Inhalt seines Traumes macht, rettet vielleicht etwas von jenem beschwingten Schweben, das die Kälte des Lebens erträglich werden lässt. Julian Schutting gibt in dem Dialog "Rohübersetzung" und dem Scheindialog "Lokalaugenschein" die Richtung vor, in der die Quelle dieses beglückenden Gefühls zu finden ist. Gleichwohl, wer den Autor und dessen Lust am Spiel mit der eigenen Sprache kennt, weiß, dass er als Wegweiser nur bedingt tauglich ist. Und so sind seine Hinweise auch mehr die eines Mondsüchtigen, eines Schlafwandlers. Verstehen kann man sie nicht, aber vielleicht gelingt es dem Leser, durch sie geleitet, einen Blick in sein Innerstes zu erhaschen. Leicht macht es Schutting seinem Leser nicht. Doch der Weg ist lohnend.

Zwei Dialoge. Zwei Ansätze der Annäherung an ein Thema. Die Liebe. Mal kaum zu erkennen. Mal unerfüllt. Allerdings immer so herrlich nah an den Herzen der Leser.

In "Rohübersetzung", dem ersten Dialog, versuchen ein Mann und eine Frau eine alte Schrift zu entziffern. Sie entziffern eine Liebesgeschichte. Schicht für Schicht tragen sie von dem kaum lesbaren Dokument ab, legen Wortfetzen frei, machen Emotionen erahnbar. Je mehr der Text sich glättet, desto mehr Fragen lässt der Inhalt offen. Die Antworten finden die Protagonisten im eigenen Herzen, und so werden aus den zwei Literaturliebhabern zwei liebende Seelen. Die Blätter des Textes offenbaren im Akt des Lesens die eigene Liebesgeschichte. Die Verbindung eines Mannes und einer Frau, die einen Text entziffern und dabei die eigene Liebe finden. Und am Ende dieses Dialogs ist es nicht ausgeschlossen, dass es dem Leser ganz ähnlich ergangen ist.

Doch auf den nun in Liebe entflammten Leser wartet schon die erste Probe: der Scheindialog "Lokalaugenschein". Ein Schriftsteller wird von einer Opernsängerin abgewiesen und verwechselt nun diese Enttäuschung mit Liebessehnsucht. In immer neuen Dialogen verhandelt er mit der von ihm scheinbar Geliebten und zeigt so, dass Lieben und Leiden sehr nah beieinander liegen. ",Wohl- oder Wehtäterin ich Euch, / weh-mir oder ja-wohl?' / Herzweh-, und daher auch Herzwohltäterin, / Herz-ach und Herz-wohl!" Er windet sich in dem Gefühl des unerhört Liebenden. Ersinnt immer neue Möglichkeiten der Begegnung mit dem Objekt seiner Liebe. Diese unterschiedlichen Ansätze sind für ihn die Spielwiese seiner eigenen Sprache. Er beglückt, wenn schon nicht die von ihm geliebte Sängerin, so doch den Leser mit den verstiegensten Gedanken und ist dabei doch immer so dicht an dem, was man Wahrheit nennt. "Ein Traumbild, Madame, das den Weg humani- / stischer Generalisierung beschreitet, geschlecht- / liche Liebe also zu Menschenliebe veredelt". So bleibt am Ende neben der Wahrheit auch immer die Frage, ob nun das, was der Autor fühlt, vielleicht doch etwas wie Liebe ist und nicht nur verletzter Stolz. Die Antwort kann der Leser erneut nicht im Text entdecken, sondern bleibt ganz und gar auf sich selbst zurückgeworfen vor dem Buch sitzen und muss sich fragen: Was ist Liebe?

Julian Schutting, der vielfach preisgekrönte österreichische Schriftsteller, hat mit seiner "Rohübersetzung" einen sehr persönlichen Zugang zum Herzen des Lesers eröffnet. Dass dieser Zugang weit entfernt von jeglicher Form von Gefühlsseligkeit liegt, verdankt er der Kraft seiner Sprache und dem Mittel des Traumwandelns, das die Wörter, und mit ihnen die Gedanken, in ungeahnte Sphären entschweben lässt. Allerdings muss der Leser Vertrauen in die leitende Hand des Autors haben, muss bereit sein, Herkömmliches zurückzulassen, die Augen zu schließen und zu träumen, um dann vielleicht am Ende des Buches, wie einer der Protagonisten, erleichtert zu sagen: "So ist es! und jetzt, mein Herz, schlaf weiter!"

Titelbild

Julian Schutting: Rohübersetzung. Mondscheiniges über die Liebe.
Styria Verlag, Graz/Wien/Köln 1999.
112 Seiten, 12,70 EUR.
ISBN-10: 3222126755

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