Kulturwissenschaft und ihre Geschichte(n)

Wo Friedrich Kittler blind bleibt, weisen Günter Dux und Andreas Reckwitz die kultursoziologischen Wege

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wen oder was Friedrich Kittler mag oder nicht: die Hörerinnen und Hörer seiner Vorlesung durften es im Verlauf des Sommersemesters 1998 immer wieder erfahren. Nach mehr als zwei Jahren kann, wer will, das auch lesen. Rousseau nennt Kittler hier "den dümmsten, paranoischsten und folglich politisch folgenreichsten aller Aufklärer". Nur widerwillig überlässt er sich "ein paar Minuten lang" dem "Schwachsinn", den dieser über das Sprechen als Ausdruck von Empfindungen verbreitet habe. Mit "Adorno als bürgerlichstem oder dümmstem" Kritiker Heideggers kann Kittler ebenfalls wenig anfangen. Auch nicht mit Gadamer, dem "leider noch immer berühmtesten Schüler" Heideggers. Woraus hervorgeht, wen es zu verehren gilt: Die eigenen Erinnerungen an den lebenden Heidegger und an seine "schöne Leiche" bezeichnet Kittler selbst als "bedingungslose Liebeserklärung".

Die Idiosynkrasien Kittlers betreffen freilich nicht nur Persönliches, sondern auch Sachliches. Amerika und die von ihm dorthin verwiesenen Cultural Studies (die aus England kommen) mag er so wenig wie Microsoft. Und das Wort "Mensch" ist ihm wie das Wort "Gesellschaft" geradezu ein Graus. Gern beteiligt er sich am "Kampf der Kulturwissenschaft" gegen "soziologische Einverleibung". Argumente sind da nicht so wichtig. Wie in der jungen Pop-Literatur geht es eher um Selbstpositionierungen und Abgrenzungen nach Kriterien des Stils und des Geschmacks. Er werde, bekennt Kittler freimütig, "womöglich aus idiosynkratischer Aversion, alles vermeiden, was nach Gesellschaftstheorie, Rousseau oder Sozialvertrag riecht." Umso magischer zeigt er sich von allem angezogen, was irgendwie nach Medientechnik und Krieg duftet. Die alte Obsession dieses Medienmilitaristen macht sich in geradezu selbstparodistischer Weise an allen Ecken und Enden des Buches bemerkbar.

Die Gesamtkonzeption dieser "Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft" ist freilich frappierend traditionell. Die ersten Sätze der Vorlesung versprechen, "autoreferentiell" die eigene Wissenschaft mit deren eigenen Mitteln anzugehen. Dies geschieht dann jedoch ganz im Stil alter Geistes- und Ideengeschichte. Kittler scheut sich nicht, der Kulturgeschichtsschreibung die Rückkehr zu den kanonischen Texten und Meisterdenkern zu empfehlen. Die reiht er denn auch referierend und kommentierend aneinander. Er beginnt 1725 mit der "Scienza nuova" des Giambattista Vico, macht weiter mit Herder, mit Hegel, Hegel und nochmal Hegel, verweilt kurz bei Burckhardt und Bachofen, hält sich dann ziemlich lange bei Nietzsche auf und auch bei Freud, bevor als krönender Abschluss eben Heidegger an der Reihe ist.

Obwohl Kittler Begriffe wie Mensch, Subjekt oder Individualität theoretisch suspekt sind, spricht er, und das ist nun wirklich eine Überraschung, permanent über Personen. Einerseits zitiert er beifällig Heidegger, der über das Leben des Aristoteles nicht mehr sagen wollte als: "Aristoteles wurde geboren, arbeitete und starb." Und fügt, gleichsam als Nachfolger des bewunderten Philosophen, hinzu: "Heidegger, so sage ich daher, wurde geboren, arbeitete und starb." Doch dann plaudert er andererseits, wie vorher schon zu Beginn eines jeden neuen Kapitels, anekdotische Details aus der privaten Lebensgeschichte aus. So erfahren wir, dass Martin im Gegensatz zum Bruder Fritz nicht stotterte, doch auch weniger trinkfest und witzig war, oder natürlich, dass Heidegger die zwanziger Jahre damit verbrachte, erstens dem deutschnationalen Juden Husserl als Assistent zu dienen und zweitens mit seiner jüdischen Lieblingsschülerin zu schlafen.

Die geistigen Heroen der Kulturwissenschaft werden hier mit allen Mitteln vermenschlicht. Und auch sich selbst präsentiert der Autor des Buches im Stil nachinszenierter Mündlichkeit seiner Vorlesung ganz als Mensch: "Jetzt bitte ich, wie an den kommenden Dienstagen auch, erst einmal um zehn Minuten Zigarettenpause". Am Ende stehen nach einem sympathischen Seitenhieb auf die bürokratische Rede von der "vorlesungsfreien Zeit" gute Wünsche für die "Ferien". Den letzten Satz lassen wir uns gerne gefallen: "Ich wünsche uns allen einen strahlenden Sommer." Kittler liebt die Sommersonne, lobt den Rausch, den Wein, die Drogen, den Gott Dionysos - und vor allem den Krieg, inklusive der Techniken, die ihm zu verdanken sind. Eine merkwürdige Mischung ist das, doch sie hat Methode. Ernst Jünger wird nur einmal beiläufig erwähnt, Marinetti gar nicht. Doch geht man wohl nicht fehl, Kittler in Kontexten dieser Namen zu lesen.

Unter dem Schafspelz der Geistesgeschichte, des Biographismus, der Sinnenlust, der Plauderei und lakonischer Witzigkeit operiert permanent der Medienmilitarist. Dessen "Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft" ist in mehr oder weniger dominierenden und explizierten Ansätzen der fortlaufende Versuch, den Überbau der Kulturgeschichte auf die Basis von Kriegs- und Militärgeschichte zu stellen. Wo immer die von ihm so genannten "Helden" der Kulturwissenschaft in ihrer Vita oder in ihrem Werk Möglichkeiten erkennen lassen, im wörtlichen oder auch nur metaphorischen Sinn auf Kampf, Krieg, Militär, Medien und Technik zu sprechen zu kommen, zieht Kittler sie, und sei es an den Haaren, herbei.

Wo dazu, wie im Fall Vico, dem Sprachen und Sitten wichtiger als Kriege waren, wenig zu holen ist, liegt das nach Kittler daran, dass dieser ein "Kind des Westfälischen Friedens" war. So kämpfte der etwas schlappe und sanfte Vico auch lediglich gegen zwei Feinde: gegen Descartes und gegen jenen Theoretiker des staatlichen Gewaltmonopols, der wiederum wunderbar in Kittlers Konzept passt: gegen "Thomas Hobbes, der als Kind der europäischen Religionskriege die Notwendigkeit, ein Gewaltmonopol des Nationalstaates durchzusetzen, einst auf den Kampf aller gegen alle zurückgeführt hat." Ein ähnlicher Fall wie Vico ist Jacob Burckhardt. Diesen "Basler Patrizier und päderastischen Ästheten" kann Kittler schon deshalb nicht schätzen, weil er so müde "Kulturgeschichte als Gegenteil aller Staats- und Kriegsgeschichte" konzipierte. Kittler hat dafür erneut eine biographische und kriegsgeschichtliche Erklärung: Basel "war nach Burckhardts eigenen Worten wie ein Balkon, von dem aus man friedlich, ein gutes Glas Chateauneuf-du-Pape in Händen, dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 zuschauen konnte. Der Krieg tobte, aber die Schweiz genoß seit 1848 ihre immerwährende Neutralität."

Wie problematisch solche kurzschlüssigen Erklärungen für die kulturgeschichtliche Ignoranz oder Undankbarkeit gegenüber dem Vater aller guten medientechnischen Dinge sind, zeigt, nebenbei gesagt, das Beispiel Kittler selbst. Kriege musste (durfte?) er leibhaftig nicht miterleben. Um so heftiger faszinieren sie seinen Kopf. Der wiederum bewegt und benennt auf dem Feld der Kulturgeschichte seine Helden wie Zinnsoldaten. Da wird Kant zum "philosophischen Oberbefehlshaber" und Hegel zum "wissenschaftlichen Leutnant" unter dem Oberbefehl von Goethe. Der französische Kulturphilosoph Volney interessiert ihn, weil der 1787 eine Schrift über den russisch-österreichischen Krieg gegen die Türken publizierte, die in Napoleon Bonaparte ihren aufmerksamsten Leser fand. Nietzsches Kulturphilosophie liebt er, weil sie im Gegensatz zur "Friedfertigkeit" der empirischen Kulturwissenschaften des 19. Jahrhunderts eine "kriegerische Philosophie" sei. Schließlich hatte Nietzsche, Kittlers Stimme vibriert hier förmlich vor Begeisterung, "sein erstes und letztes Buch im Donner der Schlacht von Metz konzipiert und empfangen und im Tessiner Hotel der Familie Moltke, ein Jahr später, ausgetragen".

Kein Wunder also nach Kittler, dass Nietzsches Kulturpolitik "in der Prophezeiung eines Welt- oder Geisterkrieges" zwischen Wahrheit und Lüge gipfelt. Nach Nietzsches Prophezeiung wird dieser gewaltige Gigantenkampf eine "Versetzung von Berg und Tal" bewirken - was Kittler zu dem eindringlichen Appell veranlasst, ja nicht zu vergessen, dass hiermit schon eine Definition technischer Weltkriege vorliege. Denn seit 1916 versuche keine Artillerie oder Luftwaffe Menschen zu töten, sondern sie zerstöre Lebensräume.

Der Vollender von Nietzsches kriegerischer Kulturpolitik ist Heidegger. Das ist allerdings nicht ihm selbst, sondern dem Ersten Weltkrieg zu verdanken. Kittler verweist "auf Heideggers Teilnahme an der Ludendorff-Offensive von 1918" und auf einen eigenen Aufsatz "über Weltkriegsstoßtrupps, in dem ich versucht habe, den Todesbegriff von Sein und Zeit mit einer radikal neue Angriffstaktik von Infanterie und Artillerie zu korrelieren." Dem "WK II" (die schneidige Abkürzung meint den Zweiten Weltkrieg) wiederum sei es zu verdanken, dass Heidegger nach 1945 in Frankreich die verdiente Resonanz fand. Damit hat es folgende Bewandtnis: Das ehemalige Parteimitglied durfte zwar bis 1951 in der französischen Besatzungszone nicht mehr lehren, wurde aber "von seinen französischen Kulturüberwachungsoffizieren desto mehr bedrängt, [...] die Technik als solche zu denken. Denn die Technik als solche lag Frankreich, spätestens seit dem Blitzkrieg von 1940, in allen Knochen. So kam es denn, daß hierzulande verpönte Philosophen wie Nietzsche und Heidegger ihre klügsten Leser und Verbreiter im Paris des Nachkriegs fanden."

Kittlers Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft hat gewiss auch anderes, vielfach Besseres zu bieten als diesen obsessiven und penetranten Kriegs- und Kampfkrampf. Dieser bildet jedoch den von vielen lobenden Rezensionen übersehenen oder nur am Rande erwähnten Subtext des ganzen Buches. Dass er im Rahmen dieser Besprechung zum Hauptext emporgehoben wurde, entspricht der das Buch zweifellos leitenden Intention: Kulturgeschichte nicht als Alltags-, sondern als Kriegs-, Militär- und Technikgeschichte zu schreiben.

Diese Geschichte ist ein "Torso" geblieben, wie Kittler selbst einräumt. Für die Zeit nach 1945 blieb keine Zeit mehr. Die verschriftlichte Mündlichkeit des Textes signalisiert: Dies ist ein Provisorium. Messt es nicht mit den Maßstäben an ein elaboriertes Buch. Die Andeutungen zu einer möglichen Fortsetzung legen eine Veränderung des Konzeptes nahe, doch an der kriegs- und technikgeschichtlichen Fundierung wird schon jetzt festgehalten: Mit dem Ende des zweiten Weltkriegs sei das Ende jener großen, vor allem von Nietzsche initiierten Kulturpolitik gekommen, "die als Gigantenkampf um die Wesenheiten den Geschichtsverlauf selber umstürzen zu können glaubte." Jetzt muss eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft an die Stelle von Gründervätern und Gründertexten Strukturen setzen. Sie stehen im Zeichen der Computer: "Nicht nur mit seinen heimlichen, aber kriegsentscheidenden Computern hat dieser Hexenmeisterkrieg, wie er bei seinen Ingenieuren hieß, den Beweis erbracht, daß Strukturen wichtiger sind als Gründungsakte."

Von dem "Gigantenkampf" kann Kittler dennoch bis heute nicht lassen. Er präsentiert sich am Ende als ein Hochschullehrer und Autor, der ihn selbst führt. Es geht um nicht weniger als um einen Kulturkampf zwischen Amerika und Eurasien: "Erst wenn der alte eurasische Kontinent seine Kulturgeschichte [...] selber erschreibt oder erforscht, statt sie der meistbietenden Pax americana zu überlassen, müssen wir den guten Titel der Kulturwissenschaft nicht erst - wie in anderen traurigen Fällen - zu Cultural Studies amerikanisieren, um als Wissenschaft zu dauern."

Bei allem Kenntnisreichtum, den Kittlers Kulturgeschichte demonstriert, gehen seine Vorlieben und Aversionen mit einer frappierend kenntnislosen Blindheit gegenüber Traditionen und Theorien der Kulturwissenschaft nicht nur in den USA, sondern auch in Europa einher. Nur sie macht seine verqueren Imaginationen von Gegnerschaften und Kampffelder einigermaßen erklärlich. Und vielleicht braucht Kittler diese Blindheit vor allem gegenüber den Sozialwissenschaften, weil diese ihm zeigen könnten, dass seine kriegs- und medientechnizistischen Erklärungsmodelle für soziokulturelle Phänomene viel zu kurz greifen.

Georg Simmel beispielsweise wird von Kittler nur einmal beiläufig erwähnt, Max Weber überhaupt nicht. Und was da noch alles fehlt, kann die zur Zeit wohl umfassendste und beste Bestandsaufnahme kulturwissenschaftlicher Theoriebildung vor Augen führen, die der Soziologe Andreas Reckwitz vorgelegt hat. Mit diesem Buch, mit der "Historisch-genetischen Theorie der Kultur" des Freiburger Soziologen Günter Dux und mit einigen anderen wichtigen Veröffentlichungen zum Thema hat sich der noch junge Verlag Velbrück Wissenschaft zu einem der maßgeblichen Publikationsforen des avancierten sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskurses der Gegenwart profiliert.

Der den alten Geistes- und den Sozialwissenschaften gemeinsame cultural turn hat, ohne dass es manche bemerkt haben, in den letzten beiden Jahrzehnten dazu geführt, dass sich beide erheblich näher gerückt sind. So zumindest, wie sich nach Andreas Reckwitz die gegenwärtige Lage der Sozialwissenschaften darstellt, scheinen der inter- und transdisziplinären Kooperation mit den Literaturwissenschaften kaum noch Grenzen gesetzt zu sein. Mechanistische Beschreibungen des Verhaltens und empiristische Konzepte sind in den Sozialwissenschaften zunehmend in Misskredit geraten. Was ehemals vielfach als vernachlässigenswertes Überbauphänomen galt, fungiert nun als Sinnbasis, auf der soziales Handeln und Kommunikation erst möglich ist. "Die Sozialwissenschaften stellen sich zunehmend als 'Kulturwissenschaften' dar, die die symbolischen Ordnungen rekonstruieren, vor deren Hintergrund die Menschen der sozialen Welt - und damit auch sich selbst - Sinn und Bedeutung verleihen. Nicht der Faktizität des Verhaltens und der sozialen Gebilde, sondern der sinnhaften Organisation der Wirklichkeit, in deren Zusammenhang Verhalten und soziale Gebilde erst möglich werden, gilt nun regelmäßig das bevorzugte sozialwissenschaftliche Interesse."

Die kulturelle Wende der Sozialwissenschaften hat sich in den Bereichen der Erkenntnistheorie, der Methodologie, der Forschungsinteressen und der Sozialtheorie zugleich vollzogen:

Die ehemals strikte Unterscheidung von Theorien und Tatsachen ist mitsamt den alten Abbildtheorien durch die erkenntnistheoretische Einsicht eines mehr oder weniger radikalen Konstruktivismus ersetzt worden. Demnach sind Theorien selbst symbolische Ordnungen, die in sozialen Prozessen hervorgebracht werden. Sie sind "Vokabulare, die letztlich kontingente Interpretationen anleiten und mehr oder minder taugliche heuristische Werkzeuge liefern."

In der Methodologie wiederum ist die Kritik an der Dominanz quantitativer Forschung gewachsen und geht mit verstärkten Bemühungen einher, qualitative Formen der Untersuchung zu erproben, wie sie "in verschiedener Form vor allem Instrumente zur Textanalyse und 'ethnographischen' teilnehmenden Beobachtung zur Verfügung stellen." Die kulturell gewendeten Sozialwissenschaften produzieren nicht wie die Naturwissenschaften Bedeutungen über sinnfremde Gegenstände, sondern Bedeutungen über jene Sinnmuster, in denen sich die soziale Welt reproduziert.

Dem entsprechen signifikante Verschiebungen der Forschungsinteressen. Lagen bis zu Beginn der siebziger Jahre die Schwerpunkte der klassischen Analyse von Sozialstrukturen auf der Untersuchung ungleicher Ressourcenverteilung zwischen Schichten, Klassen oder auch Geschlechtern, so richtete sich später die Aufmerksamkeit zunehmend auf kulturelle Milieus und deren Deutungsmuster, auf deren Lebensstile oder symbolische Besetzungen von Konsumgütern. Im Forschungsfeld der Gender Studies setzten sich Vorstellungen durch, wonach "'Geschlecht' statt einer natürlichen 'Essenz' ein Sinnmuster darstellt, mit dem die Akteure ihr eigenes geschlechtsadäquates Verhalten hervorbringen, auf diese Weise ihre Identität definieren und die Geschlechtlichkeit anderer definieren."

Auf der Ebene der Sozialtheorien schließlich wurde durch die kulturelle Wende sowohl das aus dem 19. Jahrhundert stammende Konstrukt des homo oeconomicus, dessen Handeln rational an Zwecksetzungen orientiert ist, als auch das Konstrukt des homo sociologicus, der sein Handeln an sozialen Normen und Werten orientiert, aufgehoben. Auch Zwecke und Normen sind zwar durchaus sinnhaft, doch bilden sie in kulturtheoretischer Perspektive nur Teilbereiche umfassenderer und komplexerer Sinn- und Symbolzusammenhänge. Das Konstrukt kulturtheoretisch orientierter Wissenschaft ist das animal symbolicus: "Die Welt existiert nur als symbolische, vor dem Hintergrund jener konstitutiven Regeln, die es ermöglichen, sie mit Bedeutungen zu versehen. Nicht über Zwecke oder Normen wird die Sozialwelt in erster Linie produziert und reproduziert, sondern über die kollektiv existierende sinnhafte 'Ordnung der Dinge', über Systeme von Unterscheidungen und Deutungsmustern, die als kollektive Wissensordnungen wirken und unter denen die Alltagssprache das elementarste Unterscheidungssystem bildet."

Nach solchen klärenden Unterscheidungen geht die Untersuchung von Reckwitz erst richtig los. Sie ist der umfassend angelegte Versuch, das gesamte Spektrum der heute koexistierenden Kulturtheorien unter systematischen wie historischen und entwicklungsdynamischen Gesichtspunkten zu rekonstruieren.

Schon die einführende Typologie verschiedener Bedeutungen und Verwendungsweisen des Begriffs "Kultur" ist eminent hilfreich. Denn sie erleichtert die Verständigung in der heute vielfach diffusen Debatte über die Kulturwissenschaften erheblich. "Normativen" Kulturbegriffen, die eine irgendwie veredelte und verfeinerte Lebensweise und deren Hervorbringungen umschreiben und zu denen auch die Gegenüberstellungen von Kultur und Zivilisation gehören, setzt Reckwitz zunächst "totalitätsorientierte" Kulturbegriffe gegenüber. Diese umfassen letztlich, ohne zwischen Kultur und Zivilisaton zu unterscheiden, "alles, was Menschen eigenständig geschaffen haben und was somit über Natur hinausgeht." "Differenztheoretische" Kulturbegriffe wiederum beziehen sich, und zwar nicht unbedingt normativ, auf "ein soziales 'Teilsystem', das sich in institutionalisierter Form auf den Umgang mit Weltdeutungen spezialisiert hat." Diese Kulturbegriffe meinen religiöse, philosophische, wissenschaftliche, literarische oder künstlerische Weltdeutungen, sie beziehen sich auf Sinnangebote oder -kritiken kultureller Experten sowie auf das Feld der Organisationen, Institutionen und Medien, in denen sie agieren.

Von diesen drei Typen der Begriffsverwendung unterscheidet Reckwitz schließlich einen vierten Typus, der in neueren Kulturtheorien dominiert: den "bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff". Er meint jenen Komplex von Sinnsystemen oder symbolischen Ordnungen, "mit denen sich die Handelnden ihre Wirklichkeit als bedeutungsvoll erschaffen und die in Form von Wissensordnungen ihr Handeln ermöglichen und einschränken." Neuere Kulturtheorien, die an diesem Kulturbegriff orientiert sind, bewegen sich in der Tradition mehrerer "Revolutionen" in der Philosophie des 20. Jahrhunderts: der Phänomenologie und Hermeneutik, des Strukturalismus und der Semiotik, des angelsächsischen Pragmatismus sowie der Sprachspielphilosophie des späten Wittgenstein.

Reckkwitz beschreibt zunächst das Feld moderner Kulturtheorien als Antagonismus zwischen strukturalistischen und neostrukturalistischen Konzepten subjektunabhängiger Zeichensysteme einerseits, sozialphänomenologischen und hermeneutisch interpretativen Ansätzen subjektgebundenen Sinnverstehens andererseits. Ein umfangreiches Kapitel zeichnet die Entwicklung (neo-)strukuralistischer Kulturtheorien mit instruktiven Einzeldarstellungen zu Claude Lévi-Strauss, Ulrich Oevermann, Michel Foucault und Pierre Bourdieu nach, ein weiteres die interpretativen Kulturtheorien am Beispiel von Alfred Schütz, Erving Goffmann, Clifford Geertz und Charles Tayler. Beide Theoriebewegungen haben sich bei aller Gegensätzlichkeit, so eine zentrale These dieses Buches, aufeinander zu bewegt, und zwar in Richtung auf eine Kulturtheorie sinnhafter sozialer Praktiken. Diese hat die Errungenschaften beider ehemals gegensätzlichen Theoriekonzepte in sich aufgenommen und ihre Defizite tendenziell überwunden. Kulturelle Sinnsysteme führen kein mentales Eigenleben jenseits wahrnehmbarer Handlungen und Texte, andererseits haben Texte und Handlungen keinen eigenständigen, immanenten Sinngehalt unabhängig von Sinnzuschreibungen sozialer Akteure.

Literaturwissenschaftler können bei der Lektüre betroffen oder auch erfreut bemerken, dass die Kulturtheorie sozialer Praktiken sich vor die gleichen Fragen gestellt sieht wie literatur- und sprachwissenschaftliche Texttheorien. Wer soziale Praktiken in ihrer Sinnhaftigkeit untersucht, sieht sich mit ganz ähnlichen erkenntnistheoretischen und methodischen Problemen konfrontiert wie Analytiker und Interpreten von Texten. Reckwitz sucht bei neueren Literaturtheorien einerseits Unterstützung, andererseits integriert er sie in die Begrifflichkeit kulturwissenschaftlicher Praxistheorie, indem er die Bedeutung von Texten und die Ordnung von Diskursen an soziale Praktiken des Sprechens, Schreibens, Verstehens und Lesens bindet. Aus literaturwissenschaftlichen Theorien und Praktiken der Interpretation wiederum ist seine Kritik an sozialwissenschaftlichen Vorstellungen von der Homogenität und Stabilität kollektiver Sinnsysteme inspiriert. Kulturtheorien, so fordert er, müssen dem systematischen Stellenwert der Instabilität von Intepretationen und der Uneindeutigkeit von Sinnsystemen erheblich stärker Rechnung tragen als bisher.

Am Ende des monumentalen Buches steht ein knapper Ausblick auf die gegenwärtige Ordung der Humanwissenschaften. Frühere Konzepte einer Einheitswissenschaft, die an Standards der Naturwissenschaften orientiert ist, haben heute an Überzeugungskraft verloren. Und auch die alte Trias von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften scheint sich zugunsten eines Dualismus von Natur- und Kulturwissenschaften aufzulösen. Zeitgleich zum cultural turn in den Geistes- und Sozialwissenschaften lässt sich jedoch "eine Rehabilitierung naturalistischer und materialistischer Perspektiven bezüglich einer Erklärung menschlichen Verhaltens" beobachten. Insbesondere im Programm einer biologischen Analyse des Mentalen als einer neuronalen Struktur haben sie in den Verhaltenswissenschaften konkrete Formen angenommen und werden auch im Zusammenhang mit Computersimulationen geistiger Prozesse offensiv vorangetrieben. Reckwitz lässt offen, ob hier langfristig der Versuch einer Delegitimierung der Kulturwissenschaften betrieben wird, ob zwischen naturalistischen und sinnorientierten Verhaltenstheorien ein Verhältnis gegenseitiger Ergänzung entstehen kann oder ob sich in den kulturwissenschaftlichen und naturalistischen Ansätzen "zwei konträre Projekte von Humanwissenschaft gegenüberstehen".

Die alte Entgegensetzung von Kultur und Natur scheint jedenfalls gegenwärtig eine für das Selbstverständnis der Wissenschaften neue Brisanz zu entfalten. Das zeigt auch die ambitionierte "Historisch-genetische Theorie der Kultur", die der Freiburger Soziologe Günter Dux im selben Verlag und im selben Jahr vorgelegt hat. Es ist der Versuch, den realen Prozessen der Menschwerdung und damit uns selbst auf die Spur zu kommen. Ihm liegt das neuzeitliche Bewusstein zugrunde, dass die Welt des Menschen "eine vom Menschen selbst geschaffene Welt ist", dass diese Welt "eine konstruktiv geschaffene Welt ist und deshalb im Plural gedacht werden muß: Welten, nicht Welt." Damit eng verknüpft ist das Bewusstsein der Instabilität und Historizität menschlicher Geschichte als einer Abfolge konstruktiv geschaffener Welten.

Die menschliche Daseinform in diesem Sinn begreift Dux als "Anschlußorganisation an eine evolutive Naturgeschichte". Und es ist eben dieser Übergang von der Natur- zur Kulturgeschichte, den er zu rekonstruieren und zu verstehen versucht. Er habe sich irgendwann unter empirischen Bedingungen vollzogen und müsse sich daher auch aus diesen Bedingungen erklären lassen. Die Frage ist also: Was hat im Verlauf der Evolutionsgeschichte die Konstruktivität der menschlichen Geschichte möglich gemacht? Und weiter: Wie entwickeln sich die menschlichen Konstruktionen der Welt im Verlauf der Geschichte?

Eine Antwort sucht Dux zunächst bei der Anthropologie. Sie muss es leisten, "die naturalen Bedingungen der Möglichkeit für den Bildungsprozeß geistiger, soziokultureller Lebensformen menschlichen Daseins zu klären." An einer biologischen Anthropologie führt da kein Weg vorbei. Als ungeeignet erweist sich jedoch jener biologistische Reduktionismus, der verkennt, "daß die Praxisformen menschlichen Daseins nicht schon genetisch fixiert sind, vielmehr erst konstruktiv erworben werden müssen". Die biologische Anthropologie kann die Einsicht vermitteln, dass die Konstitution des Menschen einerseits ein Produkt der Naturgeschichte ist, dass sich mit ihr andererseits eine fundamental neue Organisationsform des Lebens herausgebildet hat.

Jeder biologische Organismus ist in dem Sinne autonom, dass er auf der Basis seiner inneren Organisation mit seiner Umwelt interagiert. Hier knüpft auch Dux an den biologischen Konstruktivismus Maturanas und den Begriff des "autopoeietischen Systems" an, unterscheidet jedoch von der "genetisch präfixierten Autonomie" vorhumaner Lebewesen jene "konstruktive Autonomie", die der Gattung Mensch eigen ist. Hier müssen die Organisationsformen im Verhältnis von System und Umwelt von den Subjekten im Medium von Denken und Sprache selbst erst konstruktiv geschaffen werden. Dieser Unterschied verdankt sich vermutlich einem Evolutionsprozess, in dem alte Schaltungen des Gehirns durch ungleich komplexere ersetzt wurden. Diese befähigen und nötigen den Menschen einerseits zu feineren Differenzierungen in der Verarbeitung von Informationen aus der Umwelt, andererseits zur ordnenden Reduktion der komplexen Differenzierungen.

Dux fügt seinen evolutionsgeschichtlichen Ausführungen eine schon klassische Überlegung älterer kulturwissenschaftlicher Theorien hinzu: Der gattungsgeschichtliche Übergang von der Natur- zur Kulturgeschichte (Phylogenese) wird in der Lebensgeschichte eines jeden menschlichen Subjekts (Ontogenese) neu vollzogen. "Aus der naturalen Organisation heraus werden von jedem nachwachsenden Gattungsmitglied die kognitiven Strukturen neu entwickelt." Jedes Gattungsmitglied wird erneut zum Konstrukteur der menschlichen Daseinsform. Jedes menschliche Subjekt entwickelt neu jene soziokulturellen Konstruktionskompetenzen, die es ihm erlauben, mit der äußeren Natur, mit der sozialen Umwelt und mit der eigenen, inneren Natur erfolgreich zu interagieren.

In der Beschreibung, wie dies geschieht, stützt sich Dux vor allem auf die entwicklungspsychologischen Forschungen Jean Piagets, weitet dessen Perspektiven jedoch zur Rekonstruktion einer Entwicklungslogik soziokultureller Organisationsformen aus. Er setzt sich dabei differenziert und kritisch mit diversen Theorien auseinander, die gegenwärtig zirkulieren und miteinander konkurrieren, und positioniert die eigene zwischen den Fronten der Soziobiologie auf der einen und des Radikalen Konstruktivismus, den Dux in Distanz zu Foucault wie zu Luhmann gelegentlich einen "blinden" nennt, auf der anderen Seite. Beide bleiben trotz aller inhaltlichen Kritik an alter Metaphysik in ihren Berufungen auf etwas unhintergehbar Absolutes der alten Logik der Metaphysik verhaftet. Was den Soziobiologen die Unhintergehbarkeit der Natur, das sei den Konstruktivisten aus dem Umkreis der Postmoderne die Unhintergehbarkeit einer hintergründigen Geistigkeit in der Struktur einer Sprache, in den Regeln der Kommunikation oder in der Ordnung eines Systems. Die prozessuale Logik, die Dux progagiert, sieht das angeblich Unhintergehbare und Absolute als etwas in historischen Prozessen erst Entstandenes, in Prozessen, an denen die von der vorgefundenen Realität ständig herausgeforderten Konstruktionsleistungen der menschlichen Akteure in ihrem Interesse, Handlungskompetenz und damit Macht zu gewinnen, permanent mitwirken und in denen prinzipiell damit zu rechnen ist, dass neue Organisationsformen generiert werden.

"Kultur" im weitesten Sinn identifiziert Dux mit den Konstruktionsleistungen der menschlichen Gattung, "Kultur" im engeren Sinn mit der Reflexion dieser Konstruktivität. Kulturwissenschaft, wie Dux sie praktiziert, ließe sich als weitere Steigerung dieser Reflexivität begreifen. Sie vermag die Spielräume und Leistungen kultureller Konstruktionen der Wirklichkeit zu erweitern.

Titelbild

Andreas Reckwitz: Die Transformationen der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms.
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2000.
704 Seiten, 76,20 EUR.
ISBN-10: 3934730159

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Kein Bild

Günter Dux: Historisch-genetische Theorie der Kultur. Instabile Welten. Zur prozessualen Logik im kulturellen Wandel.
Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2000.
516 Seiten, 40,40 EUR.
ISBN-10: 3934730116

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Friedrich A. Kittler: Eine Kulturgeschichte der Kulturwissenschaft. 2. Auflage.
Wilhelm Fink Verlag, München 2001.
260 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3770534182

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch