Frühling irrer Hoffnung

Erasmus Schöfer erzählt die Geschichte der Linken

Von Heribert HovenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heribert Hoven

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die viel berufene und schlecht erinnerte so genannte '68er-Revolution' hat mitnichten auf den Straßen von Frankfurt, Berlin oder gar Paris stattgefunden, sondern in München. Denn daselbst wurde am 23. Mai in den Kammerspielen, wie die "Süddeutsche Zeitung", allerdings nur in einer Randnotiz, berichtet, "die Vorstellung der Schwarzen Komödie von Schaffer auf zehn Minuten unterbrochen und dem Publikum die Notstandsentschließung des Theaterensembles verkündet". Dieser nicht vorgesehene Akt löste "eine Protestaktion der Zuschauer aus, die sich mit Buhrufen gegen die Darsteller wandten. Die Polizei mußte gestern während der Aufführung nicht eingreifen". Während in Frankreich die 5. Republik in Fieberstürmen lag, probten an der Isar die Schauspieler den Aufstand. Die Notstandsgesetze gingen jedoch am 30. Mai reibungslos über die parlamentarische Bühne. Gleichwohl ist der Sturm auf den bürgerlichen Kulturtempel Flucht- und Höhepunkt des ersten Teils der Romantetralogie "Die Kinder des Sisyfos", in der der 1931 geborene Autor die Geschichte der Linken in diesem Lande erinnern will.

Der Name des Zyklus ist in mancher Hinsicht Programm. Ein Hauch von Melancholie liegt bereits über dem Eingangsbrief, den die Enkelin im Dezember 1989 an ihre in den USA lebende Mutter richtet und in dem sie beschreibt, wie sie ihren Großvater Viktor Bliss gesucht und gefunden hat, der als "ein runtergekommener, ein widerlegter Utopist" mit Korrekturlesen ein elendes Dasein fristet. Danach setzt die Binnenhandlung in jenen Frühlingstagen 1968 ein, und die photographische Perspektive der Erzählung wird bei manchem Leser den eigenen Erinnerungsprozess in Gang setzen. Wir begleiten Bliss beim Gang durch den "neuen gläsernen Lesesaal der Staatsbibliothek", werfen einen Blick auf die Bürgerkriegs-Schlagzeilen der "BILD-Zeitung: Bürger macht Schluß mit dem Spuk", wechseln dann ins Lehel hinüber, wo sich Bliss in seiner Wohnung, Adelgundenstr. 11, auf einen Auftritt im Schwabinger-Bräu vorbereitet. Hier soll der Wissenschaftler, der sich mit einer Arbeit über die "Geschichte der Gewalt in den USA" bei Abendroth in Marburg habilitieren wollte, nun aber seiner Frau Lena an die Isar gefolgt ist, seinen Aufruf zur Unterstützung der Ostermarschkampagne vortragen. Im Verlauf der turbulenten Ereignisse erleben wir die "Schlacht in der Barer Straße" und die Blockade der dortigen Springer-Druckerei. Außerdem wird Bliss als Fachberater an die Kammerspiele berufen, wo Peter Stein den "Vietnam-Diskurs" von Weiss probt und wo schließlich der Streik ausbricht, in den Therese Giehse, Bruno Ganz und Edith Clever und noch einige andere verwickelt sind, die das Kulturleben der Bundesrepublik entscheidend prägten.

Mehr als die aus heutiger Sicht eher melodramatischen Ereignisse jener Zeit hat Erasmus Schöfer die Zwänge und Verwerfungen eingefangen, die zu diesem "Frühling irrer Hoffnung" führten, auch die Angst, die kleinen Freiheiten wieder zu verlieren, die dem Lebensgefühl der 60er so viel Aufbruch verliehen. Doch bereits in den Stereotypen der Diskussionen werden die Widersprüche zwischen Selbstverwirklichung und wirklichem Leben deutlich, die unvermeidlich zum späteren Elend vieler 68er beitrugen. Trotzdem gehört das Buch nicht in die Kategorie Abrechnungsliteratur. Schon die Schreibweise des Zyklus-Titels verrät den genuinen Schriftsteller, der, wie es eingangs heißt, "im Zweifel lieber seinem Sprachgefühl als dem kommissarischen Rechtschreibkanon" folgt. So ist ein eigenwilliger Text entstanden, der Gedichte integriert, bisweilen mehrspaltig daherkommt, Debatten auch einmal interlinear wiedergibt und mit einiger Distanz dem "Jahrestage"-Zyklus von Uwe Johnson verpflichtet ist. Ebenso wie dieser rekonstruiert er historische Erfahrung, belebt er eine Zeit, in der sich die Gegensätze von Privatem und Gesellschaftlichem, Politik und Moral, Arbeiterschaft und Intellektuellen dialektisch aufzuheben schienen. Weil viele Textstellen, vor allem die Diskussionsbeiträge der Schauspieler dokumentarisch wirken, mag sich der Leser auch an Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands" erinnert fühlen, so, als habe Schöfer hier seine Wunschbiographie geschrieben. Höchst lebendig werden Günter Eich und Wolfgang Abendroth porträtiert. Das Proust-Zitat, dem Roman als Motto vorangestellt, gibt die Richtung an, auch für die Fortsetzungen, auf die man gespannt sein kann: "Ich bin also gezwungen, die Irrtümer zu schildern, ohne, wie ich glaube, sagen zu dürfen, ich hielte sie für Irrtümer; schlimm genug für mich, wenn der Leser glaubt, ich hielte sie für die Wahrheit."

Titelbild

Erasmus Schöfer: Ein Frühling irrer Hoffnung. Roman.
Dittrich Verlag, Köln 2001.
494 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3920862686

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