Im Bilderreich

Alberto Manguels "Bilder Lesen"

Von Jan WesterhoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Westerhoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auf den ersten Blick erinnert Alberto Manguels "Bilder Lesen" an seine vor drei Jahren erschienene "Geschichte des Lesens", ein mit Preisen bedachtes, vielgekauftes und elegant geschriebenes Werk. Hier wie dort findet man lose zusammenhängende Kapitel essayistischen Zuschnitts, viele Illustrationen und die Verheißung einer journalistischen Rundreise durch die Kultur- und Ideengeschichte der ganzen Welt.

Allerdings ist Manguels Thema diesmal wesentlich weniger spezifisch; es geht nicht länger um die Beleuchtung eines kulturgeschichtlichen Faktums (eben des Lesens) aus unterschiedlichen Blickwinkeln, sondern, ganz allgemein, um die Lektüre von Bildern. Wer hier eine zusammenhängende Studie zur Symbol- oder Motivgeschichte von "lesbaren" Elementen der Bilderwelt erwartet, wird enttäuscht werden, zumal es in vielen Fällen gar nicht um Malerei geht: die Photographie, die religiöse und weltliche Architektur (von Peter Eisenman bis Albert Speer) nehmen bei Manguel einen ähnlich wichtigen Platz wie das klassische Tafelbild ein. Sein Kapitel über Roberto Campins "Madonna vor dem Ofenschirm" wird dieser (vom Titel auch unterstützten) Erwartung am ehesten gerecht: hier spannt Manguel in bewährter Façon den motivgeschichtlichen Bogen von der "Madonna lactans" zur Kulturgeschichte der weiblichen Brust, diskutiert die verschiedenen geometrischen Formen von Heiligenscheinen, untersucht die Trinität in Beziehung zur Dreiheit des Zeitflusses und endet bei einer Analyse der Bedeutung der Leiblichkeit Christi für die Ikonographie des 17. Jahrhunderts. Dies alles ist glänzend und flüssig geschrieben und in seiner Themenauswahl durchaus kohärent.

In anderen Fällen ist der Bezug zum Titel schwerer auszumachen, etwa beim Kapitel über Monstren und barocke Wunderkammern, bei der Beschreibung des Heiligtums von Congonhas in Brasilien oder der Salinenanlage von Arc-et-Senans. Vielleicht sollte man jedoch auch weniger nach einem thematisch zusammenhängenden Standpunkt verlangen, sondern die Essays als das würdigen, als was sie (zumindest diejenigen, die bereits vorher in verschiedenen Zeitschriften erschienen sind) auch konzipiert waren: als unabhängig voneinander lesbare, journalistische und doch fundierte Streifzüge durch die Kulturgeschichte. Von diesem Standpunkt aus betrachtet sind viele der einzelnen Kapitel von außerordentlicher Qualität (abgesehen von der recht dünnen Darstellung der deutschen Mahnmal-Debatte). Einziges wirkliches Manko des Buches ist die Qualität der durchweg schwarz-weiß gehaltenen Abbildungen. Während dies für die meisten der dargestellten Werke noch adäquat (wenn auch keineswegs völlig befriedigend) ist, lässt sich bei anderen (so etwa bei Caravaggios "Sieben Werke der Barmherzigkeit", denen ein eigenes Kapitel gewidmet ist) praktisch nichts mehr erkennen. Es wäre zu wünschen gewesen, dass der Verlag sich bei einem so auf qualitativ hochwertige Abbildungen ausgerichteten Werk doch noch zur einen oder anderen Farbreproduktion durchgerungen hätte. Wer hierüber hinwegsehen kann und den Titel "Bilder Lesen" cum grano salis zu nehmen vermag, wird die Lektüre dieser Sammlung jedoch nicht bereuen.

Titelbild

Alberto Manguel: Bilder lesen.
Übersetzt aus dem Englischen von Chris Hirte.
Verlag Volk & Welt, Berlin 2000.
334 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3353011501

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