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Teofila Reich-Ranicki über das Leben im Warschauer Ghetto

Von Patricia NickelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patricia Nickel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es war der letzte Augenblick" - unter diesem Titel ist ein Bildband mit Aquarellen aus dem Alltag des Warschauer Ghettos erschienen, gezeichnet von Teofila Reich-Ranicki, begleitet von Kurztexten der polnischen Journalistin Hanna Krall ("Da ist kein Fluss mehr"), die Teofila Reich-Ranicki zu ihren Erinnerungen befragte.

Teofila, die Frau des amtierenden Literaturpapstes Marcel Reich-Ranicki, wurde 1920 in Lodz als Tochter eines Textilfabrikanten geboren, flüchtete 1940 in das Warschauer Ghetto und lernte dort ihren späteren Mann kennen. Zu Beginn der Deportationen nach Treblinka ging das junge Paar in den Untergrund und überstand dort die Kriegsjahre. 1958 verließ Teofila mit ihrem Mann Polen und kam nach Deutschland, wo sie Kinderbücher und Filmskripte übersetzte.

Die andere Beiträgerin, Hanna Krall, 1937 in Warschau geboren, ist eine auch bei uns bekannte und vielfach ausgezeichnete Autorin (vgl. www.literaturkritik.de/txt/2000-01-11.html), Stimme überwiegend authentischer Geschichten von Überlebenden des Holocaust. Ihr Buch "Dem Herrgott zuvorkommen" wurde Pflichtlektüre an polnischen Schulen.

Hanna Krall gibt uns zunächst einen Überblick über die Jahre 1940-1942 und stellt die "Gazeta Zydowsa", die "Jüdische Zeitung" des Ghettos vor. Kommentarlos präsentiert sie einzelne ausgewählte Passagen und Annoncen von damals, ferner - nach den Erscheinungsdaten sortiert - Auszüge einiger Musikkritiken Marcel Reich-Ranickis, um "jenes absonderliche Gemisch aus Grauen, Absurdität, Hoffnung und Sehnsucht nach einer normalen Welt" in möglichst authentischer Weise darzulegen. So berichtet die Zeitung 1940 von den Flüchtlingen, die in das Ghetto strömen, den zu tragenden Armbinden und anderen Verordnungen sowie der Androhung des Schusswaffengebrauchs bei der Verletzung der Lagervorschriften. Gedichte stehen neben Berichten über Mundraub und obdachlose Kinder.

Durch die Suche nach Autoren, durch Hinweise auf religiöse Sitten oder Annoncen für sparsame Karbidlampen wollte die Zeitung etwas Alltag schaffen. Stichproben aus der täglich erscheinenden Zeitung lassen eine Welt vor dem inneren Auge des Lesers aufleben, die sich erst nur erahnen lässt, aber durch das Spektrum der Ausschnitte immer greifbarer wird. Wenn man hinter die einzelnen Gebote, Ausschreibungen und Nachrichten zurückgeht oder sie schließlich zu einem großen Gesamtbild vereinigt, wird eine Realität sichtbar, in der Armut, Grauen, Angst und Trostlosigkeit alltäglich geworden sind, denn die Wirklichkeit des Ghettolebens ist grausam: Tote, die auf der Straße liegen, Nachrichten über ausgesetzte und verhungerte Säuglinge, der Selbstmord eines 17-jährigen Mädchens. "Alte Jungfern, schreckliche Pedantinnen", so eine Annonce, "sind in Kellers Geschäft zum Kunststopfen von Pullovern, Kleidung und Tischdecken angestellt."

Die "Gazeta Zydowsa" durfte legal erscheinen, aber natürlich keine Nachrichten über deutsche Verbrechen bringen; sie ließ jedoch versteckt Kritik und geheimen Widerstand zu: "'Da fragte sie David'", so ein zitiertes Bibelwort' "'warum weinst du, liebste Mutter? Freut dich der Sieg deines Sohnes nicht?' - 'Mein Sohn,' erwiderte sie, 'ich weine über das Unglück und das Herzeleid der Mütter, denen du im Krieg die Söhne erschlugst...'." 1942, als täglich 10.000 Menschen nach Treblinka abtransportiert wurden, stellte man das Erscheinen ein. Neben dem Zeitungstitel, am Rand, ein einziges Wort - ENDE.

Im zweiten Teil ihrer Ausführungen stellt Hanna Krall die Aquarelle von Teofila Reich-Ranicki vor. Häufige Motive sind hungernde, verwaiste Kinder, Obdachlose, Diebe auch. Die Zeitung dient als Leichentuch, ein sadistischer SS-Mann vergreift sich an einem Säugling. Schließlich wird der Aufstand im Warschauer Ghetto vom 19. April 1943 dargestellt. Mit einfachen Mitteln und pastosem Auftrag der wenigen Farben, die ihr zur Verfügung standen, malte Teofila Reich-Ranicki bewegte Bilder mit weichen, geschwungenen Formen. Die Not vor allem der Kinder wird wiederholt motivisch gestaltet. Unerreichbar nahe ist für die abgemagerten Gestalten die üppige Auslage der Jüdischen Bäckerei. Teofila Reich-Ranicki gestaltet in ihren Bildern starke Kontraste: die Not der einen ist der Lustgewinn der anderen. Ihre Arbeiten sind historisch wertvoll, aber künstlerisch ohne Belang. Gleichwohl lassen sie den Betrachter nicht unberührt.

Der dritte Teil ist als Gespräch angelegt. Die Überlebende des Ghettos schildert Lebensbilder, die sich ihr besonders eingeprägt haben. Sie geht dabei weitgehend chronologisch vor, beginnt bei ihrer Großmutter, beschreibt die Untreue ihres Vaters, der Selbstmord begeht und von Teofila aufgefunden wird. Der Leser erfährt, dass die junge Frau aus Hunger mit dem Zeichnen begann, dass Marcel ihr nebenher unzählige Geschichten erzählte. Sie hätte schon früher aus dem Ghetto fliehen können, hat es Marcel zuliebe jedoch nicht getan.

Die junge Frau und ihr Verlobter sehnten sich nach der Oper, und so malte Teofila neben Aquarellen über das Ghetto auch tragische Heroinen der Opernbühne. Die faksimilierten Originale zeigen beispielsweise Frauengestalten aus "Don Juan", "Tristan und Isolde", "Aida" oder "Carmen". Das Besondere an diesem Band ist, dass mit wenig Text das Leben, das Schicksal und die besondere Liebe zwischen Teofila und Marcel plastisch werden und die Bilder und Texte nur sehr sparsam kommentiert werden müssen.

Für wen malte die junge Teofila im Warschauer Ghetto? Das weiß die ehemalige Redakteurin des polnischen Rundfunks selbst kaum. Für die Menschen? Oder für sich selbst? Dank ihrer Tante sind die aus dem Ghetto geschmuggelten Bilder heute noch erhalten, und dessen war sie sich immer sicher: Die Bilder würden den Krieg überstehen, und so würde sie das Elend und die Gräueltaten, die sie erlebt hat und mit ansehen musste, irgendwann dokumentieren: "Nur soviel konnte sie tun. Zumindest soviel."

Titelbild

Teofila Reich-Ranicki / Hanna Krall: Es war der letzte Augenblick. Leben im Warschauer Getto. Aquarelle und Texte.
Übersetzt aus dem Polnischen von Roswitha Matwin-Buschmann.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2000.
119 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3421054150
ISBN-13: 9783421054159

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