Thomas Eichers Synopse des Märchens zwischen Primär- und Sekundärliteratur

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Eicher möchte nichts Geringeres erreichen, als dem Leser den Zugang zur Literatur zu erleichtern. Den "spielerische[n] Umgang mit der Literatur" möchte der Experte für Leseforschung und Hochschuldidaktik vermitteln. Dafür wählt er den Weg der Synopse von Primär- und Sekundärliteratur, die bewusst nicht auf eine "einlinige Interpretation" zielt, um so nicht mit autoritärer Kraft das individuelle Leseerlebnis zu schmälern. Im Gegenteil, dem unwissenden Leser soll das "(Plurale [...] des Textes, gewissermaßen seine [...] Sinnverästelungen" zugänglich gemacht und so "ein Verstehen über den Einzeltext" hinaus ermöglicht werden.

Diesem Vorwort folgt die Abschrift eines anonym erschienenen Märchens aus dem 18. Jahrhundert, in kurzer Distanz durch Kommentare und Erläuterungen des Herausgebers begleitet. Allerdings bleibt bei dieser Vorgehensweise offen, ob sie den didaktischen Ansprüchen genügen kann. Zweifelhaft ist zudem, ob ein im Umgang mit Literatur unerfahrener Leser dieses Bändchen jemals zur Hand nehmen wird. Schon das Sujet kann auf keine große Konsumbereitschaft bei denjenigen hoffen, die nicht sowieso schon immer alles über die literarische Märchenwelt wissen wollten.

Andererseits liefert Eicher in seinem Band wertvolle Verweise auf die Intertextualität des kommentierten Märchens. Wendet sich die Lektüre also entgegen den Absichten des Herausgebers an ein literaturwissenschaftliches Publikum? Die "Unterirdischen Abenteuer", herausgegeben von Thomas Eicher, sind Teil der Reihe "Lesen und Medien" des Athena Verlags. Verbindende Thematik und angestrebtes Ziel der nun siebenbändigen Reihe ist die Literaturvermittlung. Angesprochen werden in den einzelnen Bänden neben der Leseanimation und Leseförderung auch die Hörerziehung im Deutschunterricht. Damit stellt sich die Reihe "Lesen und Medien" einem didaktischen Anspruch.

Trotz einiger Denkanstöße wird dem literaturwissenschaftlich interessierten Leser Eichers Kommentar nicht genügen. Die Gegenüberstellung der Charakteristik von Märchen und Sage ist eher angerissen als erklärt, die Situation des Bürgertums im 18. Jahrhundert nur knapp skizziert und die Argumentation, warum der Märchenheld "en passant [mit Columbus, Lord Anson und Saint-Preux] verglichen wird", bleibt letztlich unklar.

Am Ende verfehlt Eicher die Erwartungen beider Rezipientenkreise bzw. erreicht sie erst gar nicht. Bliebe immerhin der Umweg über die Schule, aber welcher Lehrer wird Literatur gerade am Beispiel eines anonymen Märchens aus dem 18. Jahrhundert an eine wenig oder desinteressierte Schülerschaft zu vermitteln versuchen?

Titelbild

Thomas Eicher (Hg.): Unterirdische Abenteuer. Märchenerzählung und -lektüre.
Athena Verlag, Oberhausen 2000.
48 Seiten, 11,10 EUR.
ISBN-10: 3932740602

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