Nicht mehr alle Tassen im Schrank

Kurt Vonneguts Roman "Zeitbeben", der keiner werden sollte

Von Sebastian DomschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Domsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Zeitbeben" ist ein Roman, der eigentlich nicht hätte geschrieben werden sollen. Es ist der letzte Roman des amerikanischen Autors Kurt Vonnegut, der letzte in einer langen Reihe, die Vonnegut über mehrere Jahrzehnte hinweg zu einem der Großen in der amerikanischen Nachkriegsliteratur gemacht hat. Nur dass es im eigentlichen Sinne kein Roman ist, zumindest kein eigentlicher Roman. Sondern ein recycelter. Und das kam so: zehn Jahre lang hat Kurt Vonnegut an einem Roman mit dem Titel "Zeitbeben" geschrieben, aber der Roman funktionierte nicht, wie er im Vorwort freimütig zugibt. Also filetierte er den Fisch, warf Kopf und Gräten weg und machte aus den Filets einen Roman, den er "Zeitbeben" nannte.

Wer noch mitkommt, dem sei das Grundkonzept des ursprünglichen Romans erklärt. Das Zeitbeben bewirkt, "dass jeder und alles in einem Augenblick vom 13. Februar 2001 auf den 17. Februar 1991 zurückgezappt wurde." Dies ist jedoch keineswegs die große Chance, vergangene Fehler wieder gutzumachen, denn alles muss sich genauso wieder ereignen wie zuvor. Zehn Jahre lang gibt es für niemanden mehr einen freien Willen sondern nur noch eine identische Wiederholung. Kein Wunder, dass am Ende des Zeitbebens, "als der freie Wille wieder voll reinhaute", keiner mehr weiß, was zu tun ist. Rühmliche Ausnahme dieser allgemeinen Unfähigkeit, das Leben wieder in den Griff zu bekommen, ist nur der steinalte und längst vergriffene Science-Fiction-Autor Kilgore Trout, wohlbekanntes Alter Ego des Autors aus einer ganzen Reihe von Romanen, aber der hat ja ohnehin nicht mehr alle Tassen im Schrank.

Dass ein solcher Roman unmöglich funktionieren kann, dürfte auf der Hand liegen. Aber in Vonneguts Literatur geht es ohnehin nie um das Funktionieren, sondern um das Nicht-Funktionieren, und das gelingt wohl kaum jemandem so gut wie ihm. Wo ganze Generationen von gut ausgebildeten amerikanischen Schriftstellern scheinbar mühelos perfekt durchgestylte Creative-Writing-Romane auswerfen, legt sich Vonnegut in der Maschinerie seiner Romane am liebsten quer, auf dass es nur so kracht im Räderwerk. Wirft man also jeden Anspruch an Angemessenheit, Regeln und Form über Bord und überlässt sich dem assoziativ-manischen Monolog dieses dirty old man mit seinem bisweilen manieristisch wirkenden Hang zur Wiederholung, dann bekommt man sicher keinen Roman, aber einen erzählerischen Trödelladen mit einer ganzen Reihe von großartigen Fundstücken, wenn Vonnegut neben die Romanbruchstücke Reflexionen über sein Leben, das Universum und den ganzen Rest packt. Wer will, sollte versuchen, den Fisch ein zweites Mal zu filetieren.

Titelbild

Kurt Vonnegut: Zeitbeben. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Harry Rowohlt.
Carl Hanser Verlag, München 1998.
225 Seiten, 18,40 EUR.
ISBN-10: 3446195084

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