Wer spricht?

Eine österreichische Literaturgeschichte in Bildern

Von Sabine HarenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Harenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer Rezension von Thomas Bernhards Roman "Verstörung" aus dem Jahr 1972 betont der französische Kritiker Michel Cournot die verstörende Wirkung des Textes und fragt sich, wie denn der Mensch aussehe, der imstande sei, diese Irritationen zu erzeugen. Fast dreißig Jahre später könnte sich Cournot diese Frage ohne aufwendige Suche nach Fotomaterial problemlos und auf höchst anregende Art und Weise leicht selbst beantworten: Das Österreichische Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, die Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur und der Reclam Verlag präsentieren den Band "Die österreichische Literatur seit 1945" als eine Literaturgeschichte in Bildern. Aus abertausenden Fotos und Abbildungen, wie die Herausgeber Volker Kaukoreit und Kristina Pfoser-Schewig in einer kurzen Vorbemerkung berichten, musste eine Auswahl getroffen werden - eine Herausforderung, die diese Dokumentation mit jedem literaturhistorischen Projekt teilt. Das überzeugende Ergebnis versteht sich in letzter Konsequenz als ein Arrangement um unvermeidbare Lücken herum. So kann jeder Leser zum Entdecker werden und die Chance wahrnehmen, manchmal auch auf durchaus provokative Weise, in dieser "Lückenhaftigkeit" (Kaukoreit/Pfoser-Schewig) die österreichische Literatur immer wieder neu für sich auszukundschaften.

Die 360 Seiten mit 840 Abbildungen verführen zum Lesen, Schauen, Schmökern und laden zu einer visuellen Reise in das literarische Leben Österreichs der letzten fünfzig Jahre ein. Auf dieser Reise begegnet man Ingeborg Bachmann zeitunglesend in ihrer Küche in Rom, Ernst Jandl neben Friederike Mayröcker im Liegestuhl an einem Sommertag (knapp über dreißig Jahre alt!), Elfriede Jelinek zusammen mit ihrer Mutter oder Marlen Haushofer in ihrer Wohnung mit der Katze auf dem Schoß. Man trifft Autorinnen und Autoren bei Lesungen, Preisverleihungen oder bei oftmals privaten Begegnungen in unerwarteten Konstellationen. Dieser sehr ansprechend präsentierte Bilderschatz bringt nicht nur Gesichter und Stimmungen nahe, sondern informiert ebenso über Werdegänge Einzelner und Entwicklungen innerhalb der Literaturszene Österreichs. Neugierig geworden blättert man weiter, schaut und schaut, entdeckt, erinnert sich, vergleicht und ist immer wieder überrascht, wie die teilweise schnappschussartigen Momentaufnahmen Kontinuitäten und Brüche spiegeln und schließlich Literaturgeschichte 'lesbar' machen. Das Fotomaterial wird ergänzt durch Abbildungen von Buchtiteln (oftmals der Erstausgaben), Handschriften und Plakaten (beispielsweise ist die Ankündigung der einzigen gemeinsam veranstalteten Lesung der "Wiener Gruppe" von 1957 abgedruckt), Pressematerial und Theaterfotos. Diese Fundgrube an visuellen Eindrücken wird von Wendelin Schmidt-Dengler, durch einige grundlegende Beobachtungen und Überlegungen eingeleitet. Der chronologische Aufbau des Bandes orientiert sich an bedeutenden Wegmarken literarischen Lebens, ohne dass künstlich wirkende Zäsuren entstehen. In jedem Zeitabschnitt werden in Form von kleineren Essays die einzelnen "Literaturlandschaften" (Tirol, Steiermark, Salzburg, Niederösterreich, Kärnten, Oberösterreich, Burgenland, Vorarlberg) vorgestellt, es finden sich Beiträge zur "Wiener Gruppe", zur Zeitschrift "manuskripte", zur Gründung des "Forum Stadtpark" oder zum ersten österreichischen Schriftstellerkongreß 1981. Abgerundet wird diese Informations- und Bilderflut durch bio-bibliographische Hinweise, die von Peter Stuiber in Form eines kleinen Personenlexikons zum Thema zusammengestellt wurden und das Buch auch als Nachschlagewerk brauchbar machen.

Alle literaturbegeisterten und an Hintergründen und Zusammenhängen interessierten Leser können in dieser Fülle ihrer Neugierde freien Lauf lassen und Antworten finden - nicht nur auf die sich trotz aller postmodernen Thesen vom 'Tod des Autors' bei jeder Lektüre neu stellenden Frage: Wer spricht?

Titelbild

Volker Kaukoreit / Kristina Pfoser-Schewig (Hg.): Die österreichische Literatur seit 1945. Eine Annäherung in Bildern.
Reclam Verlag, Stuttgart 2000.
364 Seiten, 45,50 EUR.
ISBN-10: 3150104734

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