Den Wüstenvogel hört nicht jeder singen

Yasar Kemals lyrisch-brutale Schilderung einer Insel

Von Irmgard Johanna SchäferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Irmgard Johanna Schäfer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Insel im türkischen Staatsgebiet auf der seit Tausenden von Jahren Griechen leben. Die Ameiseninsel. Hier gibt es den süßesten Honig, die fleischigsten Oliven, die schönsten Blumen und die zartesten Mädchen. Doch eines Tages soll die Insel im Rahmen eines griechisch-türkischen Austauschprogramms geräumt und mit Türken besiedelt werden. Die Einwohner sind schockiert, sie leben schon seit Generationen auf dieser Insel, sie waren im Krieg, sie haben an der Seite Ali Paschas gekämpft, sind verwundet worden und haben sich hier ein eigenes Leben aufgebaut. Warum sollten sie gehen? Wenige verlassen die Insel, die Restlichen werden eines Morgens von bewaffneten Soldaten auf Kutter verladen und nach Griechenland verschifft, ohne Heimat, ohne Würde. Viele sterben.

Vasili aber hat sich geschworen, auf der Insel zu bleiben und den ersten Mann, der sie betritt, den ersten neuen Siedler, umzubringen, denn es ist Unrecht Menschen zu entwurzeln. Vasili versteckt sich und wartet. In einer der Mühlen findet er ein rosanes Kopftuch. Er weiß wem es gehört, es duftet nach bebenden Mädchenbrüsten, er sieht Käfer, die so rot sind, wie er noch nie ein Rot gesehen hat, er hört einen azurblauen Vogel so wunderschön singen, wie er nie einen Vogel singen hörte, doch den ersten Mann, der die Insel betritt, muss er töten.

Musa der Nordwind ist der Erste, er hat ein Haus und eine Mühle gekauft und Vasili ist fest zur Tat entschlossen. Aber erst morgen, denn Musa der Nordwind ist zu erschöpft.Und man erschießt keinen erschöpften Mann.

Das Meer ist reich an Fischen, es brodelt, es weht ein Duft von geschmorten Goldbrassen über die Insel, und Vasili hat den festen Vorsatz Musa zu töten, er hat schon viele Menschen getötet, im Krieg, in den Dardanellen. Vasili wird Musa erschießen, jetzt sofort. Doch als er sich anschleicht und Musas Gesicht sieht, da geht es nicht, weil sein ganzes Gesicht Freude und Glück ist, da kann Vasili ihn nicht erschießen, denn einen Menschen der sich so freut wie dieser, der darf noch einen Tag länger leben.

Im Krieg musste er die Toten, die in einer Senke lagen über einen Hügel zum Fluß bringen. Die Leichen waren schon in Verwesung übergegangen, die Maden wanden sich in den Leibern. Wer den Krieg bis jetzt überlebt hatte, der starb am Gestank der Leichen.

Musa fühlt sich verfolgt. Er sucht die ganze Insel ab, nach einem anderen Menschen, aber er kann ihn nicht finden. Er wartet auf andere neue Siedler, aber die die kommen, gehen sofort wieder, weil ihnen die Insel zu einsam ist, ein Paradies, sicher, aber auch ein Gefängnis, keiner bleibt. Nur der Schatten bleibt, der Musa immer folgt, der ihm Angst macht und der einem Menschen gehört, den er nicht finden kann. Im Krieg hatte er nicht so viel Angst, wie jetzt beim Gewitter, wo er den Schatten auf dem Berg stehen sieht, wie die Frauen und Mädchen, die sie im Krieg ermordet haben. Die Mädchen haben sie erschossen und ihnen die Brüste abgeschnitten, das Rot des Blutes färbte die Flüsse, die Adler machten sich über das Fleisch her. Nach Wochen der Einsamkeit und Unwissenheit, kommt die alte Lena wieder. Sie ist von Griechenland aus, zurück geflohen. Sie berichtet Musa dem Nordwind von Vasili, der auf der Insel geblieben war und auf die Bibel und den Koran geschworen hatte, den ersten zu töten, der die Insel betritt. Aber Musa lebt noch und fährt hinaus zum Fischen. Ein Unwetter läßt sein Boot kentern und Vasili rettet ihn, weil er den ersten Mann der die Insel betreten hat, nicht sterben lassen will, weil er ihn mittlerweile lieb gewonnen hat und weil auch er im Krieg war und nachts nicht schlafen kann. Und jeden Morgen liegt das Meer sehr weiß da und leckt mit kleinen Zungen am Strand der Ameiseninsel, auf die langsam wieder Leben kommt und die schon viele Geschichten gehört hat.

Der Duft von Blumen und nasser Erde steigt aus diesem Buch auf. Die grauenhaften Kriegserinnerungen schmerzen, doch wie die Menschen im Buch, wird man sich bewusst: solange man Angst hat, lebt man und solange kann man immer wieder aufstehen und lachen.

Titelbild

Yasar Kemal: Die Ameiseninsel. Roman.
Übersetzt aus dem Türkischen von Cornelius Bischoff.
Unionsverlag, Zürich 2001.
362 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3293002803

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