Die einsame Lust am Handyklingeln

Über Hans Löfflers erregenden ersten Roman "Letzte Stunde des Nachmittags"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Solveig Anderson ist eine Begehrende. Das heißt, sie ist keine Liebende. Wenn sich endlich, nach lustvoll schmerzlich durchwarteten Stunden, das Handy meldet, lässt sie es erst mal klingeln - und "schwelgt in dem Läuten, den Blick jetzt in den blauen wolkenlosen Himmel".

Was Solveig begehrt, ist das Begehren des anderen. Um sich mit ihm ihrer Existenz zu versichern, ihre Schönheit zu vergegenwärtigen. Was aber, wenn der andere sich nicht zufrieden gibt mit der ihm zugedachten Rolle als Befriedigungsinstrument? Wenn er gar die Verhältnisse umzukehren sucht?

Mit der Figur der Solveig Anderson hat der ostdeutsche Autor Hans Löffler einen weiblichen Solitär erschaffen. Eine Nachfahrin jener dekadenten Ästhetizisten, wie sie die Literatur des Fin de Siècle bevölkerten. Eine Narzisstin also: schön und stolz und sinnlich, ein asoziales, beinah vampirisches Wesen, von denkbar großer Verführungskraft, nicht zuletzt auf den Leser. Finanziell natürlich unabhängig, lebt die 42-Jährige allein mit ihrem Setter Jean in einem Luxusappartement im 48. Stock, ernährt sich vorrangig von Champagner und Haschisch und genießt auf ihrem Balkon das sich unter ihr ausbreitende nächtliche Lichtermeer der Großstadt. Und registriert, ganz im Augenblick lebend, wo immer sie sich befindet, vor allem aber an ihrem Lieblingsplatz am Strand, jede Affizierung ihrer Sinne: "Sie schaut aufs Meer hinaus, wie ihr die Brecher entgegendrängen. Sie schließt die Augen und es wird finster, und sie hört den strahlenden Donner der Wassermassen. Sie fühlt: sich - genau."

"Letzte Stunde des Nachmittags", der erste Roman des 1946 in Berlin-Spandau geborenen Hans Löffler, ist ein großes, erregendes Buch. Eines, das der dankbare Leser Zeile für Zeile genießt wie kostbaren Wein. Das ist es ja auch, verglichen mit den zahllosen Panschereien, mit denen uns die Gegenwartsliteratur ein ums andere Mal langweilt. Eine Dichtung, die sich der Errungenschaften des Impressionismus erinnert und dabei noch die Transsubstantiation unseres prosaischen Handy-Heute in Literatur leistet. In der Erzählzeit und erzählte Zeit zu einem erregenden Jetzt verschmelzen, von dem man sich wünschte, es hörte niemals auf. Freilich ist es auch ein amoralischer Roman, der Fragen von der Art "Was kann, was darf, was soll Literatur?" aufwirft.

Löfflers stolze Solveig ist auch eine nahe Verwandte der Protagonisten Robert Musils: Auch Solveig liebt das Spiel mit der Grenze. Vor allem mit der Grenze von sozialem Kontakt, von Kommunikation: Immer wieder öffnet sie sich, beginnt ein Gespräch mit einem (beliebigen) Du, beobachtet, was sich dabei verändert, fühlt sich - genau, und bricht den Kontakt wieder ab, wenn sie Gefahr läuft, sich im entdifferenzierten Wir zu verlieren. Verschließt sich wieder wie ein gesättigtes, aber auch verängstigtes Kind in die Einsamkeit ihrer autoerotischen Welt: "Seine Stimme klingt jetzt wieder wie die, die sie von seinem Anrufbeantworter kennt und mag, mit sich trägt, oft nur bei ihm anwählt, um sie zu hören, sich manchmal wünscht, dass er nicht da ist, um nur der Seele seiner Worte nahe zu sein."

So verbringt sie ihre Nächte damit, zufällige Telefonnummern zu wählen, mit Unbekannten Gespräche zu beginnen. Einer von ihnen, Bruno, bringt Solveig bei ihrem Spiel mit der Grenze zu Fall: Ausnahmsweise lässt sie sich auf ein Treffen ein, und Bruno vergewaltigt sie. Solveig nimmt Rache: Sie engagiert einen Killer, der Bruno für sie ermordet, den Mord dabei auftragsgemäß mit einer Videokamera filmt, so dass Solveig Brunos Ende wieder und wieder erleben kann. Auf den Geschmack gekommen - "Es braucht sich zu schnell auf... Die Wirkung, sie verfliegt zu schnell" -, trifft sie sich wieder mit dem Killer, beauftragt ihn aufs Neue. Der mysteriöse Killer aber scheint der einzige zu sein, der ihr ebenbürtig ist. Er zwingt Solveig hinaus aufs offene Meer, nötigt sie dazu, die letzte Grenze zu überschreiten, die von Leben und Tod, von Sein und Nichts: Am Ende umschwimmt der an Solveig scheiternde Killer stoisch seine brennende Yacht, während er ihr in ihrem Motorboot den Weg weist - den zum Strand oder -?

Hans Löffler, der gelernte Gärtner und Graphiker, der seit 1976 schon mehrere Bücher veröffentlicht hat (vier zu DDR-Zeiten im Aufbau-Verlag, in den Neunzigern einen Gedicht- und einen Erzählband bei Hanser), gilt noch immer als Geheimtipp. Günter Kunert schrieb über ihn schon 1979: "Hier ist einer allein unterwegs, für uns etwas verständlich zu machen, was nur umschrieben werden kann, weil es niemals eindeutig ist - um daran zu erinnern, wie es um uns, die Leser, eigentlich bestellt ist." Der Satz hat unverändert Gültigkeit. Mit einer ebenso ökonomischen wie lyrischen Sprache skizziert Löffler in seinem Roman Szenen von atemberaubender Intensität und Sinnlichkeit, wozu auch das durchgehende Präsens und nicht zuletzt jede Menge Papierweiß (!) beitragen. Das sinnliche Erleben Solveigs - es wird auf eine geheimnisvolle Weise auch das des Lesers: "Die Frau singt sich in eine Stille [...] in die ihr niemand folgen kann [...] wie sie ruft, nach uns, und doch gewiss Gott meint."

Titelbild

Hans Löffler: Letzte Stunde des Nachmittags. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2001.
256 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3446199845

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