Eine schmale Schneise im Dickicht

Michael Mankos fleißige Annäherung an "Zettel's Traum"

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Arno Schmidt hat nur wenigen Lesern zugetraut, "Zettel's Traum" verstehen zu können. Denn dieses komplexe Monument der deutschen Nachkriegsliteratur erfordert nicht nur eine beinahe übermenschliche Geduld, sondern auch einen immensen Bildungseifer. Zu breit gestreut die Anspielungen, zu weit gefächert der literarische Kanon, den dieses Riesenwerk voraussetzt. Hier verlieren selbst ambitionierte Leser früher oder später den Faden.

Wie praktisch also, könnte man denken, dass es jetzt mit Michael Mankos Dortmunder Dissertation ein neues Hilfsmittel gibt, das den "roten Fäden" in "Zettel's Traum" folgt und somit eine Schneise durch das Dickicht des Großbuchs bahnt. Um diesem Missverständnis unverzüglich vorzubeugen, müssen an dieser Stelle gleich zwei Einschränkungen gemacht werden: Unter "roten Fäden" versteht Manko keine Leitmotivik im herkömmlichen Sinne, sondern ausschließlich literarische Quellen. Aber auch über die verschafft sein Buch keinen umfassenden Überblick. Die mit Abstand wichtigste Quelle etwa, das Werk Edgar Allan Poes, kommt überhaupt nicht vor - und das schon aus Platzgründen.

Stattdessen behandelt diese Studie Dramen und Motivkreise, die Arno Schmidt in einem Interview einmal eher beiläufig als "rote Fäden" von "Zettel's Traum" bezeichnet hat: Shakespeares "Sommernachtstraum", Offenbachs Bühnenwerke, Goethes "Faust", den Merlin-Stoff und das Pygmalion-Motiv. Manko dokumentiert und dechiffriert die Verarbeitung dieser Quellen in einer anerkennenswerten Fleißarbeit, die ohne eine profunde Kenntnis von "Zettel's Traum" und der zugrunde liegenden Texte nicht zu leisten gewesen wäre. Dabei integriert er zahlreiche Forschungsergebnisse der letzten 30 Jahre und voller Stolz auch immer wieder eigene Vorarbeiten.

Um die strukturbildende Funktion der "roten Fäden" nachzuweisen, setzt sich diese Studie zunächst produktiv mit der bisherigen Zitatforschung innerhalb der Schmidt-Philologie auseinander. Dabei widerspricht sie allen Ansätzen, die Schmidt eines "Zitatismus" bezichtigen. Schmidt hat, so Mankos überzeugende These, literarisches Material bewusst als Stilmittel verwendet - ob als bloßen Beleg, als erläuternde Anspielung oder klingende Wortmünze im Dienste polyhistorischen Bildungsprunks. Dass die "roten Fäden" in "Zettel's Traum" tatsächlich als Bildungsprinzip fungieren, zeigt Manko, indem er ausgewählte literarische Fundstellen durch thematische Parallelen als zusammengehörig erscheinen lässt. Der ausführliche Anhang versammelt Fundstellenerläuterungen systematisch nach Art eines Handbuchs und wird sich künftiger Forschung zweifelsohne als nützlich erweisen.

Weil "Zettel's Traum" in vielfältiger Weise auf anderen Texten fußt, bedient sich die vorliegende Untersuchung im weiteren der Hypertextualitätstheorie Gérard Genettes. Für Genette liegt eine Beziehung zwischen einem Hypertext (hier "Zettel's Traum") und einem Hypotext (hier die "roten Fäden" als Ursprungstexte) vor, wenn der Hypertext vom Hypotext durch eine literarische Transformation abgeleitet ist. Manko zeigt innovative Verarbeitungstechniken auf, die es zulassen, "Zettel's Traum" als Parodie (Bedeutungsänderung durch minimale Transformation), als Travestie (stilistisch herabsetzende Transformation) und als Pastiche (ohne satirische Absicht unternommene Stil-Nachahmung) zu bezeichnen.

So weit darf man Mankos Sekundärtext getrost als solide Grundlagenforschung bewerten. Fragwürdig wird diese Arbeit jedoch, wenn der Verfasser "Zettel's Traum" gleich mehrfach als Künstlerroman bezeichnet, ohne dies je hinreichend zu begründen. Nur weil Schmidts "rote Fäden" Aspekte des Künstlers behandeln, soll "Zettel's Traum" in der Tradition der Genieästhetik von Heinses "Ardinghello" oder Novalis' "Heinrich von Ofterdingen" stehen? Nein, so Manko einschränkend, "Zettel's Traum" zeige nicht das Werden eines Künstlers, sondern den Künstler "auf dem Höhepunkt seiner Schaffensfähigkeit". Mehr noch: Weil Daniel Pagenstecher als Schmidts Alter Ego zu betrachten sei, handle es sich bei "Zettel's Traum" um einen biografischen Künstlerroman.

Mit derlei Glaubenssätzen gesellt sich der Verfasser zu zahlreichen Schmidt-Interpreten, die sich schon seit vielen Jahren um die Rekonstruktion einer Autor-Intention bemühen. Manko unterstellt den literarischen Quellen etwa eine "Abbildfunktion für Schmidts Persönlichkeit"; er behauptet, Schmidt formuliere in den Faust-Zitaten des III. Buches eine Satire auf seinen eigenen Alltag, und er erklärt schließlich, "Schmidt wollte mit Zettel's Traum einen Künstlerroman schreiben und stellte sich daher selbst und seine tragenden Vorstellungen dar".

Dass der empirische Autor trotz einer scheinbaren Nähe von Biografie und Fiktion uneinholbar ist, scheint dem Verfasser fremd zu sein. Sich von Schmidts hermeneutischen Vorgaben zu emanzipieren und eine eigenständige Deutung von "Zettel's Traum" zu wagen, versucht Manko daher gar nicht erst. Wenn Schmidt von "roten Fäden" spricht, dann untersucht Manko diese und fahndet nicht etwa nach anderen. Durch diese Beschränkung auf ein vom Autor autorisiertes Lesemodell lässt die Studie zwangsläufig viele relevante Textmerkmale außer acht. Die untersuchten Quellen gehören unbestritten zur Struktur von "Zettel's Traum", sind aber nicht allein konstituierend. Weil Manko lediglich den von Schmidt vorgegebenen Pfad beschreitet, bleibt nach umfangreicher Analyse als Fazit nur die wenig originelle Bestätigung von Schmidts Aussage, dass "Zettel's Traum" durch literarische Quellen inhaltlich konstituiert wird. Das hätten wir aber auch ohne Mankos Buch geahnt.

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Michael Manko: Die "Roten Fäden" in Zettel´s Traum. Literarische Quellen und ihre Verarbeitung in Arno Schmidts Meisterwerk.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2001.
380 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3895283207

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