Vom Tag gefordert, für die Zukunft bestimmt

Marcel Reich-Ranicki zeigt sich in seinen Reden als hellsichtiger Intellektueller

Von Oliver GeorgiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Georgi

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über einen Mann wie Marcel Reich-Ranicki noch Neues berichten zu wollen, erscheint angesichts seiner Bekanntheit und literaturkritischen Autorität als sinnloses Unterfangen. Wie kein anderer bestimmt Reich-Ranicki die gegenwärtige Kulturszene mit, polarisiert mit seinen oft polemischen Kritiken. Wegen seiner fachlichen und sprachlichen Kompetenz hoch gerühmt, hat er die die Literatur in ein nie zuvor da gewesenes Rampenlicht des öffentlichen Interesses gerückt - ihm wird, so mag es scheinen, das Buch und sein Autor als Werbeträger inmitten eines Medienzirkus, den der Dompteur Reich-Ranicki meisterhaft zu lenken weiß. Dabei ist Reich-Ranicki zeitlebens jedoch immer wieder aus der Rolle des Kritikers herausgetreten und hat sich selbst als Autor zumeist literaturgeschichtlicher Werke betätigt - und mit seiner Autobiographie "Mein Leben" als 80-Jähriger einen Bestseller veröffentlicht.

Neben seiner literaturkritischen Tätigkeit hat Reich-Ranicki indes nie Zweifel an seinem gesellschaftspolitischen Interesse und Engagement gelassen. Als Jude in Deutschland, der die Barbarei des Holocaust selbst erlitten hat, schaltet sich Reich-Ranicki immer wieder in die öffentliche Diskussion vor allem zur deutschen Vergangenheit ein.

Der Band "Vom Tag gefordert. Reden in deutschen Angelegenheiten" zeigt ihn nun in dieser zuletzt beschriebenen Rolle - in der des scharfsichtigen Zeitkritikers und klugen Rhetorikers. In zwölf Reden zu literarischen, allgemein kulturellen Themen und vor allem zur eigenen Biographie in Deutschland wird Reich-Ranickis Bedeutung als einer der führenden Intellektuellen des Landes deutlich. "Vom Tag gefordert" will der Autor in diesem Sinne auch als Fortsetzung und notwendige Ergänzung seiner Autobiographie verstanden wissen.

Ranicki widmet sich im vorliegenden Band seinen diversen Leidenschaften und Passionen: der Redekunst, dem Theater, den Biographien seines "Triumvirats" Goethe, Wagner und Dostojewski, dem Berufsstand des Kritikers an sich. Rhetorisch und sprachlich wohl überzeugend, jedoch von geringerer, da zeitlich gebundener Bedeutung sind jene Reden, in denen Reich-Ranicki jeweils aktuelle Probleme beispielsweise der Kulturpolitik anprangert - so etwa die "fatale" Situation der Frankfurter Oper aus dem Jahr 1997.

Entscheidender, wesentlicher ist sein Vortrag wie der "Über das eigene Land"; eine ungemein hellsichtige, unverschleierte, fast nüchterne Rückschau auf Reich-Ranickis Weg von der glücklichen Kindheit in Berlin bis hinein in das Nachkriegsdeutschland - auf dem schrecklichsten, unmenschlichen Umweg: den der Denunziation, Vertreibung, KZ-Haft in der Hölle des "Dritten Reiches".

Ähnlich bestechend: Die Rede über die Rhetorik, in der Reich-Ranicki die Frage stellt, ob diese Mutter oder Hure der Demokratie sei und gegen Ende folgert, die Rhetorik müsse zwecks besserer Durchschaubarkeit zum Bestandteil von Bildung und Erziehung gemacht werden.

Marcel Reich-Ranicki, das erweist sich in den letzten Jahren immer mehr, ist aus dem zeitweilig düsteren Schatten des ewig nörgelnden, uneinsichtigen Literaturpapstes herausgetreten und erscheint heute mehr denn je als weiser, alter Mann, der lebendig, packend und engagiert zu erzählen weiß.

"Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude." Mit diesem Satz hat Marcel Reich-Ranicki einst auf Günter Grass' Frage geantwortet, welcher Nationalität er sich denn nun zugehörig fühle: der deutschen oder der polnischen. Mag er eine wahre Heimat in seinem Leben nicht gefunden haben, so konnte Reich-Ranicki sich doch in eine andere fliehen: in ein ",portatives Vaterland', eine Heimat und nicht die schlechteste: die Literatur, genauer, die deutsche Literatur."

Wie sehr Marcel Reich-Ranicki in der Literatur zuhause ist, dürfte bekannt sein. Dass sein Blickfeld sich bei weitem nicht "nur" auf die Literatur und ihre Welt beschränkt, das hat er mit diesem Redenband bravourös unter Beweis gestellt.

Titelbild

Marcel Reich-Ranicki: Vom Tag gefordert. Reden in deutschen Angelegenheiten.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2001.
208 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3421055017

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