Pocahontas und der Polyhistor der Popkultur

Klaus Theweleit weiß alles, was man über Gründungsmythen wissen kann

Von Alexis EideneierRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexis Eideneier

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als die ersten britischen Siedler im Jahre 1607 in Nordamerika landeten, kam es unverzüglich zu Feindseligkeiten mit den indianischen Einwohnern. Dabei gelangte Captain John Smith in die Gefangenschaft des Indianerfürsten Powhatan. Der Häuptling befahl sogleich, dem weißen Eindringling den Schädel zu zertrümmern. Da griff Pocahontas ein, Powhatans zwölfjährige Tochter. Nachdem sie ihren Vater vergeblich um Gnade für den weißen Mann angefleht hatte, legte sie schützend ihren Körper über den gefesselten Todeskandidaten. Der Captain war gerettet und ein amerikanischer Mythos geboren.

In Buch 1 seines auf vier Bände angelegten "Pocahontas"-Werks erzählt Klaus Theweleit die Geschichte der historischen Pocahontas, wobei die Quellen nicht immer zuverlässig sind. Es geht um die Gründung der englischen Siedlung Jamestown und um das Indianer-Mädchen Pocahontas, das den weißen Eroberern in den ersten Wintern mit Nahrungsgeschenken hilft. Theweleit berichtet von ihrer Geiselnahme im Jahr 1613 und ihrer Taufe auf den Namen Rebecca. Und er zeigt, dass die Geschichte der "Urmutter" aller Amerikaner, die seither erzählt wird, einen groben Schönheitsfehler hat: Die angeblich so verrückte Liebesgeschichte zwischen Pocahontas und John Smith ("a very mad affair") hat nie stattgefunden. Historisch gesehen gab es nur die 1614 geschlossene Ehe zwischen Pocahontas und dem weißen Tabakfarmer John Rolfe. Außer der Geburt ihres Sohnes Thomas, Pocahontas' Englandreise im Jahr 1616 und ihrem mysteriösen Tod nahe London im Jahr 1617 gäbe es eigentlich nicht viel zu erzählen - wäre da nicht Klaus Theweleit.

Den Karlsruher Professor beschäftigen die kulturhistorischen Auswirkungen männlicher Gewalt schon seit Jahrzehnten. Er hat zahlreiche lange Bücher über Faschismus und Kolonialismus geschrieben und darin immer wieder die Wechselbeziehungen von Gewalt und Medien untersucht. Die verschiedenen Formen der Mythisierung und Literarisierung von Herrschaft in Wörtern, Tönen und Bildern sind seit jeher sein großes Thema. Schon in seinen 1977 erschienenen "Männerphantasien" interpretiert er faschistische Körperformationen und überträgt die darin entdeckten Strukturen schließlich auf alle Männer aller Epochen. Egal, ob sich Theweleits Augenmerk auf Faschismus, Kolonialismus, Klassenkämpfe oder Geschlechterkämpfe richtet: Sein Ziel ist stets, hinter dem historischen Faktenwissen allgemeine Handlungsstrukturen zu enthüllen. Deshalb praktiziert er eine denkbar umfangreiche Form der Geschichtsschreibung, die auch populäre Kulturtechniken, Mythen, Lebensweisen und Literaturen einbezieht.

Es verwundert nicht, dass Theweleit auch bei seinem Pocahontas-Projekt mit polyhistorischer Besessenheit alles Material zusammengetragen hat, dessen er habhaft werden konnte. Er verfolgt bei weitem nicht nur amerikanische Gründungsmythen, die sich um Pocahontas ranken - er assoziiert auch eine lange europäische Tradition herbei, die von Apollonius von Rhodos über Ovid bis zu Shakespeare und Arno Schmidt reicht. Dabei hat der uferlose Fluss der Popkultur nicht nur illustrierende Funktion. Theweleit kehrt immer wieder zur historischen Pocahontas zurück und vergleicht ihre Biografie mit allem, was seit Jahrhunderten in Liedern, Comics, Filmen, Fotos, Logos, Zeichnungen, Gemälden, Landkarten, Kinderbüchern, Pornos, Prospekten und Plakaten über sie verbreitet wird. Bei der Fülle des verwendeten Materials erstaunt es nicht, dass Theweleits Assoziationsketten oft recht sprunghaft angelegt sind. In anschwellenden Fußnoten und seitenlangen Anmerkungen kippt der intellektuelle Spurensucher seinen ganzen Zettelkasten vor dem Leser aus und man gewinnt den Eindruck, dass ihm wirklich kein einziges Comic-Heft entgangen ist. Auch der unverwechselbare Theweleit-Sound, der sich von der üblichen akademischen Diktion durch die gelegentliche Verwendung derber Subkultur-Vokabeln unterscheidet, macht den "Pocahontas-Komplex" zu einem einzigartigen Projekt auf dem deutschen Buchmarkt.

Nachdem der erste Pocahontas-Band überwiegend historische Fakten analysiert, soll der zweite (bislang unveröffentlichte) Band den Titel "Das Buch der Königstöchter. Die Medea/Pocahontas-Connection" tragen. Es wird darin um Königstöchter gehen, die Pocahontas gleich mit ihren jeweiligen Besatzern kollaborieren - angefangen bei der antiken Medea über die mexikanische Malinche bis hin zu jüngeren Beispielen. Der dritte, gleichfalls angekündigte Band ist unter dem Titel "Import. Export. Kolonialismustheorien, oder: Warum 'Cortés' wirklich siegte" geplant. Im vierten, bereits vorliegenden Buch schließlich widmet sich der Verfasser Arno Schmidts Erzählung "Seelandschaft mit Pocahontas". Theweleit beeindruckt hier durch eine überaus kenntnisreiche Deutung, die teils auf vorhandenen Arbeiten beruht, teils eigenständig erarbeitet ist. Seine These lautet, dass es sich bei "Seelandschaft mit Pocahontas" um einen Gründungstext der westdeutschen Nachkriegszeit handelt, der Nazi-Barbarei und körperliche Sinnlichkeit einander gegenüberstellt. Der Krieg ist vorbei, die Deutschen entdecken Zärtlichkeit und Sexualität, um ihre grausame, gewalttätige Vergangenheit zu unterdrücken. Durch eine gründliche Recherche, etwa der Geschichte des Baseballspiels oder der Romane des von Schmidt bewunderten James Fenimore Cooper, dechiffriert Theweleit Anspielungen, die bisher nicht als solche verstanden wurden. Man braucht nicht jede seiner Assoziationen so schlüssig zu finden wie er selbst, aber dennoch erscheint seine Grundthese durchaus plausibel.

Was ist die Bilanz der zwei vorliegenden Bände? Pocahontas Kooperation mit den Kolonisatoren gilt gemeinhin als Gründungsmythos der Vereinigten Staaten und Theweleit scheut sich nicht, die Verlogenheit dieser Mythisierung aufzuzeigen: Die kolportierte Liebesgeschichte zwischen Pocahontas und John Smith hat sich mit ziemlicher Sicherheit niemals ereignet. Die reale Liaison mit John Rolfe hingegen wird nur allzu gern verschwiegen. Statt eines Berichts über die (traditionell unerwünschte) ethnische Mischehe zwischen einem Weißen und einer Indianerin hält man sich lieber an den idealisierenden Rettungsmythos. Peggy Lee und Elvis Presley etwa besingen in dem berühmten Song "Fever" die imaginierte Liebesgeschichte von Pocahontas und John Smith. In Disneys Pocahontas-Zeichentrickfilm kommt John Rolfe nur am Rande vor und Virginias Tabakfelder sind mit Rücksicht auf kindliche Zuschauer zu Maisfeldern mutiert.

Theweleit wagt eine nonkonformistische Deutung des Mythos, indem er einen Bezug zwischen Kolonialismus-Theorien und aktuellen Geschlechterdebatten herstellt und die ständig erneuerte Sexualisierung der Gewalt untersucht. Seiner Analyse gelten Frauen als erstes Opfer des Kolonialismus: Die koloniale Ausrottung war nur deshalb erfolgreich, weil sie weibliche "Basisopfer" wie das von Pocahontas bewusst in Kauf nahm, um eine Männerherrschaft zu errichten. Glücklicherweise drängt einem der Verfasser diese Ansicht keinesfalls auf - so bleibt jedem Leser selbst überlassen, ob er sie teilen möchte. Fest steht jedoch eins: Wer sich entschließt, hunderte Seiten über den Pocahontas-Mythos zu lesen, wird von Theweleit mit zahlreichen kulturhistorischen Fundstücken und spannender Lektüre allemal belohnt.

Titelbild

Klaus Theweleit: Der Pocahontas-Komplex. Buch 1: Pocahontas in Wonderland. Shakespeare on Tour. Indian Song.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
722 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3878777515

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Klaus Theweleit: Der Pocahontas-Komplex. Buch 4: You give me fever. Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas. Die Sexualität schreiben nach WW II.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
230 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 387877754X

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